Inhalt
Berlin, 1923: Der US-amerikanische Zirkusartist Abel Rosenberg findet seinen Bruder erschossen in ihrem gemeinsamen Zimmer vor, offenbar Selbstmord. Als immer mehr Menschen in seiner Umgebung ums Leben kommen, gerät er ins Visier von Inspektor Bauer. Und generell ist ein verarmtes Deutschland dieser Tage kein guter Ort für „Fremde“ und ganz besonders nicht jüdischer Abstammung.
Kritik
Der vierzigste Spielfilm von Ingmar Bergman war ein Besonderer in der Vita des schwedischen Ausnahmeregisseurs, allerdings nicht unbedingt ganz freiwilliger Natur. Wegen Steuerhinterziehung angeklagt, suchte er kurzzeitig das Exil in München und wenn man schon mal vor Ort ist, dreht man doch direkt auch einen Film. Somit ist Das Schlangenei erstmals keine schwedische (Ko-)Produktion, sondern eine US-Deutsche. Als Produzenten fungierten der kurz zuvor aus Italien nach Hollywood immigrierte Dino De Laurentiis (Hannibal) und der besonders durch die Edgar Wallace-Reihe bekannte Horst Wendlandt, allein dieses Dreigestirn klingt so einzigartig wie spannend. Heraus kam dabei auch ein Film, der sich einerseits teilweise deutlich vom sonstigen Bergman-Output entfernen zu scheint, andererseits aber in vielerlei Hinsicht so glasklar seine Handschrift trägt, dass es wirklich ein Kuriosum darstellt. Das Schlangenei, beinah ein kleines Kuckucksei. Gemessen an der unverschämt hohen Qualität seitens Bergman sicherlich weit weg von seinen stärksten, aber aufgrund der Umstände vermutlich eine seine interessantesten Arbeiten.
Im Mittelpunkt steht der jüdische US-Amerikaner Abel Rosenberg (David Carradine, Kill Bill: Vol.1), der sein Geld eigentlich als Zirkusartist verdient. Aktuell zieht ihn nicht allein nur die Verletzung seines Partners und Bruders Max aus dem Verkehr, sondern während der Hyperinflation im Berlin der Weimarer Republik gibt es ohnehin kaum Geld zu verdienen. Und wenn - ist es nichts wert. Für ein Päckchen Zigaretten sind stolze 4 Milliarden Mark fällig. Aufgrund der allgemein vorherrschenden Depression und Perspektivlosigkeit scheint es daher kaum überraschend, dass sich Max eines Abends selbst die Kugel gibt. Denn genau so ist die Stimmung dieser Tage. Während in den lebendigen Nachtclubs und feinen Lokalen noch künstlich versucht wird, das Märchen von Lebensfreude und Wohlstand aufrecht zu erhalten, herrscht in den Straßen schon ein ganz anderer Ton. Die Menschen hungern; die Gewalt und der Unmut richten sich spürbar gegen alle, die nicht „dazugehörig“ scheinen; das System angeblich ausbeuten. Inmitten dieses Strudels aus sich schürenden Hasses taumelt der Protagonist hinein in eine leicht surreal-obskur wirkende Serienmördergeschichte. Mit einem fantastischen Gert Fröbe (Es geschah am hellichten Tag) als sächselnden, hartnäckigem Ermittler im Nacken und einer auf Deutsch singenden und mit flirrenden, stahlblauen Augen bibbernden Liv Ullmann (Herbstsonate) als weggetreue Muse im Gepäck, während sich der restliche Cast fast ausschließlich aus Deutschland zusammensetzt.
David Carradine – nur zwei Jahre vorher in Roger Cormans Death Race 2000 noch fleißig im Umnieten von unschuldigen Fußgängern aktiv – war lediglich die fünfte Wahl für die Hauptrolle, nachdem Dustin Hoffman (Die Unbestechlichen), Robert Redford (Die drei Tage des Condor), Richard Harris (18 Stunden bis zur Ewigkeit) und Peter Falk (Eine Leiche zum Dessert) alle dankend abgelehnt haben. Vielleicht auch dezent irritiert, was für ein exploitativ anmutendes Drehbuch Arthouse-Gigant Ingmar Bergman ihnen hier vorlegte. Das Carradine mit solchen Rahmenbedingungen gar kein Problem hatte - und erst recht hier seine ganz große Chance witterte -, ist dementsprechend nicht nur folgerichtig, sondern eine seiner besten Karriereentscheidungen. Das Schlangenei mag auf den ersten Blick für einen Bergman aus einer beinah snobistischen Sichtweise „unwürdig“ erscheinen, ist aber speziell durch seine Entstehungsgeschichte und die Umstände eigentlich nicht nur eine sehr reizvolle Hommage, sondern auch ein Zugeständnis an eine Genre-Affinität, die man bei ihm gelegentlich schon aufblitzen sehen konnte, aber selten so offenherzig ausgelebt wurde.
Ein Persona wird großzügig mal dem erweiterten (heute würde man sagen: Elevated-)Horror zugeschrieben, bei Die Stunde des Wolfs ist das noch wesentlich deutlicher, aber so offensiv wie hier kam Bergman dem reinen Genre nie. Für seine Zeit verblüffend explizite Gewalt, eine rohe Serienmördergeschichte und eine Auflösung, die die diverse Horror- und Exploitation-Mittel bedient, als wäre man hier bei American International Pictures und Corman himself unterwegs. Aber all das verpackt in einen echten Bergman. Bei dem sich sein Kameramann Sven Nykvist wieder Shots herausnimmt, wie sie niemand dieser Zeit gleichwertig umsetzen konnte. Darstellende – allen voran Ullmann und Fröbe – genauso agieren, als wäre das der nächste Oscar-Anwärter. Das Setting und das Zeitkolorit der eigentliche Star und viel wichtiger sind als der Plot per se, denn allein diese Fußnoten sind an und für sich großartig. Bergmans Großstadt-Thriller wirkt wie ein Kniefall an den deutschen Expressionismus. Verwendet bewusst ein kafkaeskes Leitmotiv vom Unschuldigen in einer pervertierten, unfairen Mausefalle. Klatscht plakativ – aber das darf Genre eben auch mal machen – eine Studie der gesellschaftlichen Verrohung ins Gesicht, die nicht feingliedrig analysiert wird, sondern das Kind ganz grobschlächtig am Schopf aus dem Dreck zerrt. Am Ende sogar wüst überspitzt, aber selbst das wirkt in diesem seltsamen Kontext einfach richtig. Die titelgebende Schlangenei-Metapher passt da wie die Faust aufs Auge. Nicht subtil, sondern direkt mit dem Messer durchs Auge. Aber eines geht wirklich niemals: Für Tier-Snuff (ein Pferd wurde wohl tatsächlich für den Film getötet) gibt es keinerlei Argumente.
Fazit
Ein spannender, da total ungewöhnlicher Bergman, der inszenatorisch Weltklasse mit einer spannenden Grundidee, aber auch recht vielen Genre-affinen Kapriolen part. Das Resultat dürfte so recht einzigartig sein und ist allein deshalb extrem sehenswert. Kein Masterpiece, aber das muss ja auch nicht immer sein und ist auch der Fluch bei Künstlern wie Ingmar Bergman: wenn es nicht direkt ins oberste Regal gehört, gilt es als Enttäuschung. Fair ist das nicht.
Autor: Jacko Kunze