Inhalt
Der Dokumentarfilm ist eine poetische Nachthymne an Tallinn, eine Stadt, in der die Zeit sich unter der Last endloser Tage und undurchdringlicher Nächte biegt.
Kritik
“Irgendwann habe ich aufgegeben, gegen die Schlaflosigkeit zu kämpfen.”, raunt Vladimir Loginovs Hintergrundstimme zu den verschwommenen Bildern tanzender Club-Besucher*innen. “Statt Widerstand zu leisten, umarmte ich die seltsame Offenheit der dunkelsten Stunden.” Jene Stunden von Sonnenuntergang bis zum frühen Morgen markieren den filmischen Fokus seines dokumentarischen Mosaiks. Jenes arrangiert ausschnittartige Aufnahmen der nächtlichen Aktivitäten Tallinn zu einer kinematischen Collage. Teils somnambuler Stadtführer, teils topographische Traumdeutung, teils müde Meditation, driftete die introvertierte Inszenierung zwischen Menschen und Orten, die nachts keine Ruhe finden.
„Schlaflosigkeit verzerrt alles. Alles scheint entfernt, wie Kopien von Kopien.“, sinniert der Regisseur aus dem Off zwischen Ambiente-Klängen und aufgeschnappten O-Tönen. Diese philosophistischen Phrasen ersetzen Interviews, Hintergrundinformationen oder Expertenstimmen zur Nachtseite des urbanen Lebens. Loginov liegt weniger an einer informativen Erkundung der nächtlichen Logistik und Lebensmuster sowie der chronischen Schlaflosigkeit, die seine filmische Exkursion scheinbar motiviert, als einem subjektiven Stimmungsbild. Ein stringentes Narrativ existiert ebensowenig wie ein investigativen Schwerpunkt jenseits der Zeitspanne. Die dadurch entstehenden thematische Leerstelle können die fragmentierten Momentaufnahmen nur bedingt füllen.
Von der Notrufzentrale bis zum Swinger-Club, von der einsamen Parkbank bis zur vollen Disco, von den Frühaufstehenden in der Bahn bis zu den Nachtschwärmer*innen im Taxi gleitet die ruhige Kamera durch die schlaflosen Stätten des Schauplatzes. Max Golomidovs Kamera wechselt zwischen scharfgestochenen Einblicken, etwa bei der Abbildung des nächtlichen Arbeitsrhythmus, und schemenhaften Silhouetten in Bars, Clubs und hinter verhangenen Fenstern. Organisation, Ablauf und Eigenheiten des Nachtbetriebs, ob zu Unterhaltungszwecken oder als essenzielle Versorgungsstruktur, werden nicht erkundet. Die Nachtwelt bleibt ein entrücktes Mysterium, ein distanziertes Diorama ohne Zugang.
Fazit
“Eine schlaflose Nacht ist keine Nacht des Feierns, des Trinkens, Suchens, Erfüllens von Hoffnungen. Es ist keine Nacht, die in bedeutsamer Unterhaltung mit einem guten Freund verbracht wird, und keine Nacht der Liebe.“ Solche prätentiösen Postulate zeigen paradigmatisch den Mangel an Tiefgang und Perspektive Vladimir Loginovs nächtlicher Doku. Deren Bilder vermitteln das Gegenteil, ohne den Widerspruch aufzulösen. Die flüchtige Originalität des belanglosen Bilderbogens der estnischen Hauptstadt nach Sonnenuntergang nutzt sich rasch ab. Schlaflosigkeit ist für die Zuschauerschaft des ermüdenden Exposés immerhin kein Problem.
Autor: Lida Bach