7.8

MB-Kritik

The Woman Who Left 2016

Drama

7.8

Inhalt

Es ist 1997 und Horacia sitzt seit 30 Jahren wegen Mordes im Gefängnis.Dann tauchen neue Beweise auf, die ihre Unschuld beweisen - und die Schuldihres reichen Liebhabers aus Jugendtagen. Horacia ist eine freie Frau, doch dieJahrzehnte haben ihr alles genommen. Was ihr bleibt, ist die kalte Wut auf denMann, der sie einst ins Gefängnis brachte. Der ist noch wohlhabender als zuvor,verbarrikadiert sich aber aus Angst vor einer Entführung in seinem Anwesen. ImSchatten dieser Mauern lernt Horacia weitere Nachtgestalten kennen: einetranssexuelle Prostituierte, eine von Dämonen geplagte Obdachlose und einenbuckligen Eierverkäufer. Während sie ihnen eine großherzige Freundin wird,wartet Horacia geduldig auf ihre Gelegenheit zur Rache.

Kritik

Eine Situation, die jeder so schon einmal erlebt hat: Man muss etwas Alltägliches erledigen. Kein Problem. Schafft man, ohne darüber nachzudenken. Nun muss man genau dies nochmal erledigen und sich dabei voll und ganz auf diese Sache konzentrieren. Und schon kommt man ins Straucheln. Egal ob es ums Balancieren, einen mechanisch einstudierten Bewegungsablauf oder was auch immer geht; die natürlichsten Dinge kommen einem plötzlich fremd vor. Einen ähnlichen Effekt hat The Woman Who Left auf den Kritiker gehabt. Lav Diaz scheint sich seiner Rolle, seiner künstlerischen Identität zu bewusst gewesen zu sein. Und verliert beinahe die Qualitäten, die seine sonstigen Filme so bärenstark machen.

Selbstverständlich ist The Woman Who Left nicht einfach so abzutun. Auch ein Werk von knapp vier Stunden muss erst einmal verarbeitet werden. Diaz hat ja nicht vollends das Handwerk verlernt, er scheint nur hin und wieder etwas hastiger und unkonzentrierter zu Werke gegangen zu sein, als es für ihn üblich ist. (Wichtiger Hinweis für den Leser: Das Wort „Hastiger“ soll dabei gar nicht in Verbindung auf die sicherlich ungewöhnliche Laufzeit verstanden werden, sondern einzig auf die Entfaltung der Geschichte.) So scheint der Beginn für Diaz’ Verhältnisse aus tatsächlich kurzen Einstellungen zu bestehen. Doch das ist nur ein Indiz dafür, dass Diaz hier etwas von seinem gewöhnlichen, bewährten, preisgekrönten Stil abweicht. Auch sind die Unterschiede nie dermaßen weltbewegend, dass man von einem „neuen Diaz“ sprechen könnte - es sind einfach Kleinigkeiten, die nach und nach größere Wellen schlagen und The Woman Who Left in ein anderes Licht rücken.

Der Film ist der zweite Lav Diaz, der in Deutschland eine Auswertung bekam. Drei Jahre, nachdem mit Norte, das Ende der Geschichte bereits eine nihilistische Tortur der Machtlosigkeit einige wenige Leinwände in der Bundesrepublik heimsuchte. Und während in Norte, das Ende der Geschichte die Hauptfigur im Strudel der Gewalt recht schnell versinkt, wartet Horacia (Charo Santos-Concio) erst einmal ab. Die Frau hat die letzten dreißig Jahre ihres Lebens unschuldig im Gefängnis verbracht. Ein Komplott eines reichen Mannes und einer armen Frau haben sie einst für den Mord an ihrem Lebenspartner hinter die Gitter gebracht. Dass die erste halbe Stunde des Films tatsächlich im Gefängnis spielt könnte man erahnen, wenn man auf die bewaffneten Männer achtet. Ansonsten ist es nicht Thema. Diaz offenbart diese Information ganz plötzlich und nutzt die Ellipse zuvor geschickt und thematisch passend. Horacia hat keine Vergangenheit, also erfahren wir auch nichts darüber.

Ebenso geschickt nutzt Diaz die Szenen in dem Frauengefängnis um die Figuren zu charakterisieren, positionieren und das Thema des vierstündigen Films zu benennen. „Wir vergessen nicht die Person, die wir früher waren, oder?“ fragt ein kleines Mädchen, das von Horacia in der Gruppenzelle unterrichtet wird. „Alles geht verloren. Nichts bleibt erhalten.“ antwortet eine andere Frau. Horacia ist mit der Antwort nicht zufrieden, aber sie sagt nichts. Sie denkt nur weiter darauf herum. Das Thema wird aber deutlich wie ein Paukenschlag. Horacia ist eine Frau Gottes. Gläubig, fleißig, brav, engagiert, zuvorkommend, selbstlos, intelligent. Ebenso wie sie für andere schuftet, arbeitet sie an sich selbst. Doch dann wird sie aus dem Gefängnis entlassen und dreißig Jahre ihres Lebens stellen sich als Lüge heraus. Hat Horacia die Person vergessen, die sie vor dem Gefängnis war? Oder vergisst sie nun, in wiedergewonnener Freiheit, wer sie im Gefängnis war? Scheinbar, denn sie besorgt sich eine Waffe und spioniert den Mann aus, der ihr das Leben aus den Händen gerissen hat.

Doch wie eingangs erwähnt: The Woman Who Left ist kein Lav Diaz-Film von seiner gewohnten Qualität. Das liegt gar nicht daran, dass die Adaption einer Leo Tolstoi-Geschichte eine moralisch andere Richtung einschlägt, als die meisten seiner anderen Filme. Sondern viel mehr daran, dass Diaz seinen Film um Einiges bekömmlicher gestaltet. Während Diaz’ Filme sich stets durch einen immensen Realismus auszeichneten, tritt hier die Fiktion stärker in den Vordergrund. Fiktion, die etwas ungelenk fundiert wird und mit fortschreitender Laufzeit immer weiter in die Knie gezwungen wird. Dass der Film mit einer (für Diaz’ Verhältnisse) schnelleren Schnittfolge arbeitet könnte gar als willkommenes Zeichen für ein breiteres Publikum gesehen werden. Dennoch sollte man sich dabei fragen: Wenn man schon Lav Diaz guckt, warum dann nicht lieber einen langsameren aber dafür sehr guten Film?

Fazit

Mit „The Woman Who Left“ ist Lav Diaz künstlerischer Höhenflug etwas ins Straucheln gekommen. Hat der philippinische Regisseur seit „Norte, das Ende der Geschichte“ 2013 in Cannes lief regelmäßig auf internationalen Filmfestivals wichtige Preise gewonnen, so auch hier, wirkt der Film dennoch weitaus mechanischer. Wie inszeniertes Theater eben. Dadurch geht die bissig realistische Gestalt seiner Schöpfungen verloren und zieht die emotionale Relevanz des Werkes mit sich. Der Kampf zwischen dem Engel und dem Dämon des Menschen verliert dabei stetig an Farbe und Dringlichkeit. Solange, bis es bei aller Liebe für den Regisseur und sein Werk schwerfällt, dem Film für seine Unaufmerksamkeit und teils schludrige Ausführung nicht böse zu sein.

Autor: Levin Günther
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