6.8

MB-Kritik

Dodeskaden 1970

Drama – Japan

6.8

Yoshitaka Zushi
Kin Sugai
Toshiyuki Tonomura
Shinsuke Minami
Yūko Kusunoki
Junzaburō Ban
Kiyoko Tange
Michio Hino
Keiji Furuyama
Tappei Shimokawa
Kunie Tanaka
Jitsuko Yoshimura
Hisashi Igawa
Hideko Okiyama
Tatsuo Matsumura
Imari Tsuji

Inhalt

In verschiedenen Episoden erzählt Akira Kurosawa von Außenseitern der Gesellschaft. Oft gezeichnet von tiefem Unglück fristen die Figuren ein eigentlich bitteres Dasein. Dennoch sehen sie es nicht ein, deshalb den Kopf in den Sand zu stecken.

Kritik

Ob Akira Kurosawa (Das Schloss im Spinnwebwald) durch seinen Suizid-Versuch diesen Film verraten hat? Ganze fünf Jahre hat es für den japanischen Großmeister gedauert, bis er nach Rotbart sein nächstes Werk finanzieren konnte. Kurosawas erster Film in Farbe hört auf den klangvollen Namen Dodes’ka-den, wurde von einer Allianz aus namhaften Regisseuren produziert (Keisuke Kinoshita (Vierundzwanzig Augen), Masaki Kobayashi (Harakiri) und Kon Ichikawa (Feuer im Grasland)) und gilt heutzutage als einer der Lieblingsfilme von unter anderem Sion Sono (Antiporno) und den Dardenne-Brüdern (Zwei Tage, eine Nacht) . Als Dodeskaden in die japanischen Kinos kam, fiel er nach Meinung der Kritiker und der Zuschauer gleichermaßen durch - niemand interessierte sich für den Film, niemand wollte Geld für ihn bezahlen. Akira Kurosawa wurde zum gleichen Außenseiter wie seine Filmcharaktere, nur wähle er eine anderen Weg als sie. Gleich dreißig Schnitte fügte er sich mit einer Rasierklinge zu. Aber wie das mit Meistern nun einmal so ist; sie sterben erst, wenn sie all ihre Arbeit verrichtet haben.

Mit traumartiger Musik eröffnet Kurosawa seinen ersten Farbfilm, dessen Titel in etwa ein „Klick-Klack“-Geräusch beschreibt. Der japanische Regisseur bedient sich hier einer altbekannten und bereits bewährten Metapher und siedelt seinen Film in einem Außenbezirk der Stadt Tokyo an. Ein Bezirk, der von extremer Armut gezeichnet ist; Straßen gibt es nicht dafür umso mehr Schlamm und Matsch. Eine eigentlich giftige Umwelt, die zeigt, wie die Gesellschaft langsam aber sicher ausrottet. Und genau wie in seinen früheren Filmen, etwa Engel der Verlorenen, prangert Kurosawa dabei eher die allgemeinen Umstände an, als dass er den Figuren selbst irgendeine Last anlegen würde. Stattdessen zeigt Kurosawa - typisch Herzensprojekt, typisch Dostojewski-Fan - Menschen, die von der feinen Gesellschaft als „Idioten“ oder „minderbemittelt" abgestempelt werden. Er zeigt Menschen im Abseits (so der Nebentitel), Menschen, die entweder eine geistige Fehlstellung haben, die unterdrückt werden oder anderweitig zum Tuscheln anregen.

So zum Beispiel der Junge Roku-chan (Yoshitaka Zushi, Ran), der sich jeden Morgen für seinen Beruf fertigmacht und arbeiten geht. Er hat sein ganzes Zuhause mit bunten Bildern seiner „Arbeit“ vollgekleistert; dabei gibt es diesen Beruf nur in seiner Fantasie. Der Junge imaginiert, er sei Zugschaffner und fährt mit seinem imaginären Zug eine imaginäre Strecke ab, meckert über die imaginären Techniker, die seinen imaginären Zug nicht gut genug gewartet haben. Es ist rührend, wie ernst er seinen Job, seine Lebensaufgabe nimmt und Kurosawa lässt ihn gewähren - sicher auch, weil der Job des Regisseurs gar nicht so anders ist. Auch ein Regisseur arbeitet hauptsächlich imaginativ, wedelt, fuchtelt und hampelt in der Luft herum, in der Hoffnung, dass andere sehen, was er meint. So fährt die Kamera mit dem Jungen mit, als würde er sich nicht nur in der Luft bewegen, sondern als wäre sie wirklich vor einem Tor zurückweichen. Die Geräusche, die der junge Mann sich vorstellt werden von Kurosawa perfekt getimt in die Szene geschnitten. Die Realität des Jungen wird auch die unsere.

Dies ist jedoch nur die erste Vignette des Films: In mehreren Episoden und einem breiten Figurenarsenal zeigt Kurosawa das Schicksal verschiedener Menschen, die als abnormal oder nicht achtungswürdig gelten. Mit einem angenehmen Gespür für Komik und Timing lässt Kurosawa seine Figuren all ihre Macken ausleben, wie sie nur wollen. Manche zelebriert er dabei zusehends. So wird Roku-chan zum Beispiel ein Ende als Held vergönnt, wenn er am Ende des Tages wieder nach Hause kommt und die Taschenlampe, die um seine Hüfte gebunden ist, ganz so leuchtet, als wäre er auf einer Bühne im Spotlight, das ihm den Weg leuchtet. Oder noch weit vorher, wenn er mit seiner Eisenbahn durch den Himmel fährt, der in pink, orange und allen Farben des Regenbogens glitzert. Roku-chan ist vollkommen, wenn er seinen Traum leben kann und dabei sollte es irrelevant sein, wie der Traum auf Dritte wirken mag. Einen besonderen Platz im Herzen findet Kurosawa dabei auch für die Mutter des Jungen, die ihm gegenüber völlige Normalität seines Lebens suggeriert.

Die Menschen sind äußerlich ganz unten angekommen. Bettelarm, verdreckt, die Kinder arbeiten weit mehr als die Erwachsenen. Aber Kurosawa geht es nicht darum, ein Porträt des Elends zu inszenieren, stattdessen findet er - in den unmöglichsten Situationen - Hoffnung mit seinen Figuren. Irgendwo findet er einen Pfad, der noch nicht begangen wurde. Irgendwo kann er seine Figuren hinbringen. Dabei findet der Regisseur immer wieder äußerst gefühlvolle und angenehme Momente, er findet Humor in den Situationen und Figuren und (am wichtigsten) er findet Respekt und Ehre. Er erkennt, dass das Außenseitertum kein Grund für Negativität ist; es sind Menschen am Abgrund und dennoch klammern sie sich am Leben fest. Sie kämpfen mit der inneren Tragik ihres Lebens und offenbaren dabei menschlichere Züge, als alle Besserstehenden, die nicht von oben herab beäugt werden. Leider begeht Kurosawa dabei einen Fehler und erklärt die Moral von der Geschicht’ bereits mit der ersten Episode. Danach wird das gleiche Ergebnis auf andere Wege erforscht, wodurch der Film teilweise unstrukturiert und repetitiv wirkt. Ultimativ schön bleibt er aber von Anfang bis Ende.

Fazit

Mit „Dodes’ka-den“ hat Akira Kurosawa ein Herzensprojekt umgesetzt, ist damit vor Kritikern und Publikum auf die Nase gefallen und wollte sich dann - als hätte er nichts aus seinem Film gelernt - das Leben nehmen. Er zeigt gebrochene Existenzen, die allesamt ihre Last zu tragen haben (von Missbrauch über Mittellosigkeit bis zur Behinderung). Und dennoch machen sie alle immer weiter und schützen das bisschen, was ihres ist. Dabei ergibt es Sinn, dass dies der erste Farbfilm des Großmeisters ist, nutzt er die Farbe doch als weitere Dimension der Geschichte und nicht als gegebene Natürlichkeit. Im Mittelteil ein bisschen ziellos, dafür immer mit dem richtigen Timing für Zärtlichkeit und Herzerwärmung.

Autor: Levin Günther
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