7.3

MB-Kritik

The Other Side of the Wind 2018

Comedy, Drama

7.3

Inhalt

Vor einigen Jahren drehte der berühmte Jake Hollywood den Rücken zu und zog nach Europa. Jetzt kehrt er in die Traumfabrik zurück, um seine Arbeit als Regisseur fortzusetzen

Kritik

„Aus juristischen, politischen und finanziellen Gründen wurde der Film nicht fertig. Welles starb 1985. Er hinterließ fast 100 Stunden Material, eine Arbeitsfassung aus Montagen und bearbeiteten Szenen, kommentierte Skripts, Memos, Ideen und Weisungen. Dies ist ein Versuch, seine Version zu realisieren.“

Mit diesen schlichten Worten beginnt The Other Side of the Wind, jene ebenso simple wie waghalsige Idee, Orson Welles (Citizen Kane) letztes, niemals fertiggestelltes Filmprojekt zu vollenden. Nachdem das umfangreiche Rohmaterial jahrelang aufbewahrt wurde, brachte schließlich Netflix die Gelder dafür auf, dieses Projekt zu realisieren. Die Umsetzung kommt in mehrerlei Hinsicht einem Wagnis gleich. So ist das Werk vor allem eine Gratwanderung zwischen filmischer Grabschändung und künstlerischem Ruhm, den Blick stets Richtung cineastischem Olymp gerichtet. Das Ergebnis, in dieser Form Orson Welles' grundlegender Version allemal würdig, gleicht mehr einer Collage filmischer Fetzen und kaleidoskopartiger Mosaiksteine, als einem klassischen Erzählfilm. Irgendwo zwischen fiktivem Filmdokument und essayistischer Selbstreflexion thront The Other Side of the Wind als gigantisches Avantgardeprojekt.

Erzählt wird die Geschichte eines alternden Filmregisseurs, den es nach Jahren des Exils zurück nach Hollywood zieht und der dort anlässlich seines 70ten Geburtstag sein letztes Kunstfilmprojekt vorführen will. Vor Kritikern, Regisseuren, Darstellern – Freund und Feind also – offenbaren sich Abgründe. Dabei ist es geradezu erquickend, Filmschaffende wie John Huston (Die Spur des Falken), Claude Chabrol (Das Biest muss sterben) oder Peter Bogdanovich (Paper Moon) vor der Kamera zu bestaunen. Deren Schauspiel ist durch klassische Bewertungskategorien kaum greifbar, schließlich spielen sie innerhalb des wüst überladenen Figurenkabinetts unterschiedlichste Seiten ihrer Charaktere, darunter auch Abwandlungen ihrer selbst. In selbstreferentieller Manier teilt Welles in satirischen Spitzen nicht nur gegen die Traumfabrik Hollywood aus, sondern überdenkt auch seine eigene Rolle als Regisseur. Kohärenz, zumindest inhaltlich, bleibt dabei weitestgehend auf der Strecke. Formal aber findet er in seinem treibenden Wechsel zwischen Film im Film, Dokumentar-, Handlungs- und Metaebene einen eigensinnig einnehmenden Rhythmus.

Zweifelsohne wäre es überaus interessant gewesen, eine von Orson Welles selbst geschnittene Version zu sichten, auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten abzuklopfen und dadurch weitere Erkenntnisse zu destillieren. So aber lebt The Other Side of the Wind auch von dem Mysterium, welches ihn allgegenwärtig umgibt. Von Beginn an kreisen Fragen zu dem anfangs nur kurz angeschnittenen Entstehungsprozess über dem Film. Tatsächlich gewinnt das Werk durch seine späte Fertigstellung eine weitere Metaebene, welche den komplexen Charakter des Films mit zusätzlicher Energie anreichert. Dadurch wird Welles‘ selbstreflexiver Blick durch den Schnitt von außerhalb gelenkt. The Other Side of the Wind wird somit zu einem Kartenhaus aus dritten Wänden, das jedoch jederzeit vom Einsturz bedroht scheint. Einen roten Faden vermisst man ohnehin durchgehend, stattdessen schlägt die rasante Schnittfolge in alle Richtungen aus.

Über 30 Jahre nach seinem Tod kehrt Orson Welles somit aus seinem Grab zurück und schenkt uns ein Werk, welches das Medium Film und damit verbunden auch unsere Sehgewohnheiten an ihre Grenzen treibt. Ein komplex strukturierter Experimentalfilm, der mühelos zwischen Realitäts- und Handlungsebenen, zwischen schwarz-weiß und Farbe, sogar zwischen Illusion und Wahrheit wechselt. Welles zollt damit auch formell seinem komplexen Charakter Tribut. Das wirkt selbstverliebt, aber auch gnadenlos ehrlich. Einer klaren Deutung entzieht sich ohnehin beinahe jedes Bild, dafür sind die einzelnen Szenen schlichtweg zu virtuos verzahnt und Welles‘ Anspruch zu vielschichtig. Bewusst doppeldeutig ist The Other Side of the Wind ein gewagtes, chaotisches und nur schwer greifbares Filmexperiment, welches wir in dieser ekstatischen und radikalen Form aktuell wohl nur auf Netflix bestaunen dürfen.

Fazit

„The Other Side of the Wind“ ist ein überbordender Gigant. Irgendwo zwischen Essayfilm, Mockumentary und selbstreferentiellem Filmexperiment gewinnt das Werk durch seine späte Fertigstellung eine weitere Metaebene dazu. Über 30 Jahre nach seinem Tod definiert Orson Welles das Medium Film neu.

Autor: Dominic Hochholzer
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