Basierend auf Dino Buzzatis Graphic Novel „Poema a fumetti“, verwebt Virgilio Villoresi Kunstfilm, Animation und optische Illusionen zu einem traumwandlerischen Filmerlebnis, das in Venedig Außer Konkurrenz Premiere feiert. Orfeo interpretiert den antiken Mythos als moderne Suche nach Liebe und kreativer Erfüllung. Vor Ort am Lido spricht der italienische Regisseur mit Lidanoir über seinen experimentellen Einstieg in das Spielfilm-Format und die besondere Inspiration aus seinem familiären Umfeld.
Lida Bach: Dein Spielfilm-Debüt Orfeo ist eine Adaption des klassischen Mythos. Was hat dich an dieser Geschichte fasziniert?
Virgilio Villoresi: Am meisten inspirierte mich sicherlich der Gedanke, einen unbekannten Ort wie das Jenseits zu betreten, weil ich eine Welt von Grund auf neu erfinden konnte. Ich suchte nach einem kreativen Sprungbrett, um all meine Fantasien ausdrücken zu können. Für den Film wurde alles im Studio komplett individuell gestaltet. Die Kulissen, die Laternenmasten, die Gemälde … nichts war schon so da, alles wurde von Grund auf neu erschaffen. Es ist, als wäre das Film-Set eine Erweiterung meiner selbst.
LB: Du erwähntest, dass diese Geschichte eine persönliche Hommage an deine Mutter ist.
VV: Das kam folgendermaßen: Im Drehbuch hatten wir eine großartige Chorszene, die in einem Theaterbau spielte. Aber wir konnten es uns nicht leisten, das alles umzusetzen. Da fand ich durch einen seltsamen Zufall bei einem Besuch bei meiner Mutter in einer Kiste ein paar Alte Super-8 Filme. Also fragte ich meine Mutter, was dies für Filme seien. Sie erzählte, diese waren Videos aus der Zeit, als sie früher Ballerina war, und dass ich sie mir ansehen dürfe. Dann hatte ich plötzlich diese Idee: Warum verbinde ich nicht diese Ballett-Szenen im größeren Rahmen mit dem Material, das ich gerade drehe? Die gleiche Szenographie und die gleiche Choreographie mit den gleichen Bewegungen. Mittels Schnitt habe ich beides, die neuen Aufnahmen und die alten Filme, vereint und fand dies eine wunderbare Hommage an meine Mutter.
Es ist ein bisschen so, wie es Jean Vigo in Atalante gemacht hat. Er vereint die Liebesgeschichte zweier weit voneinander entfernter Menschen, die einander suchen, durch Parallele-Montage. Hier vereine ich durch den Schnitt in dieser Szene die Zuneigung zu meiner Mutter künstlerisch mit meiner Liebe zum Kino.
LB: Und konnte deine Mutter den Film sehen? Wie hat sie darauf reagiert?
VV: Leider kann sie nicht zur Premiere kommen, da sie schon sehr alt ist und Schwierigkeiten beim Gehen hat. Das ist sehr schade, aber ich hoffe, dass sie den Film bald sehen wird.
LB: Identifizierst du dich mit der Figur des Orpheus, der ja ebenfalls Künstler ist?
VV: Ja, sehr. Aber ich sehe mich nicht nur in Orpheus, sondern im ganzen Film. Zum Beispiel in allen Requisiten im Film. Diese unglaubliche Sammlung von Objekten habe ich selbst zu Hause. Es ist eine Art Wunderkammer. Fast das ganze Bühnenbild ist so, als hätte ich es aus meiner Wohnung mitgebracht und an das Set gesetzt. Ästhetisch betrachtet ist es also eine Fortführung meiner selbst, nicht nur auf der narrativen Ebene. Es gibt zwar autobiografische Zitate, aber ich denke, dass der Film viel mehr umfasst.
So viele Facetten meiner selbst stecken darin; im Bühnendesign und in der Ausstattung, aber auch bezüglich den Leidenschaften, die seit meiner Kindheit habe. Der Film hat viel mit Rhythmus zu tun. Dieses rhythmische Gefühl habe ich daher, dass meine Mutter mich als Kind zu Tanzaufführungen mitnahm und mir dadurch Musik vermittelte. Es gibt also auch diese klangliche Komponente. Im Laufe der Jahre entwickelte ich dann eine große Leidenschaft für das Kino. Es gibt tatsächlich viele, viele Kino-Zitate im Film. Angefangen mit William Dieterles Portrait of Jennie bis zu Alfred Hitchcock. Dann gibt es viel von Jan Švankmajer. Mit der Kaleidoskop-Szene zitiere ich die abstrakte Malerei Jordan Belsons sowie bei der Arbeit mit Chromatographie.
Der Film ist ein Spiegelbild meiner selbst. Diese Freiheit hatte ich nur, weil ich selbst produziert habe. Statt in einem professionellen Filmstudio habe ich in meinem eigenen Studio gedreht. Es ist ganz anders als in der Filmindustrie; ich war völlig frei.
LB: War es herausfordernd, diese verschiedenen Techniken und Texturen harmonisch zu vereinen?
VV: Es war nicht einfach. Bei bestimmten Effekten brauchten wir für jede einzelne Einstellung einen halben Tag. Ich wollte reale Performances und handwerkliche Effekte erschaffen und nicht nur digital imitieren. Damit habe ich es mir sozusagen absichtlich schwer gemacht. Aber gerade durch diese Plastizität entsteht ein kindliches Staunen, wie bei einer Zaubershow. Auch die Stop-Motion-Szenen waren sehr anstrengend, besonders für die Schauspielenden. Zuerst habe ich mit ihnen gedreht, dann kamen die Animationskünstler, um die kleinen Details zu animieren. Wir haben maximal fünf Sekunden Drehmaterial pro Tag geschafft. Daher brauchte es zweieinhalb Jahre, diesen Film zu fertigzustellen.
LB: Der Orpheus-Mythos handelt von einem Künstler, der Liebe um der Inspiration willen opfert. Empfindest du einen solchen Konflikt zwischen dem Versprechen ewiger Liebe und künstlerischer Inspiration?
VV: Ich musste mir diese Frage nicht stellen, da ich den Mythos komplett neu erfinden wollte. Ich wollte ihn persönlicher machen, ein bisschen wie in Dino Buzzatis „Poema a fumetti“, das bereits sehr innovativ und poppig ist. Um meine Vision von Orpheus zu entwickeln, versuchte ich von der klassischen Ikonographie wegzukommen, weil ich etwas viel Persönlicheres schaffen wollte. In diesem Sinne ist mein Orpheus eher mit etwas Autobiografischem verbunden. Der ganze Film ist mit der Vorstellung eines Ortes als Traum verbunden. Es ist eine Reflexion darüber, wie Kino gemacht werden kann. Es ist der Versuch, die Ontologie des Kinos als Traum zu zeigen. Ein Zuschauer schaut sich also einen Film an und beginnt eine traumartige Reise.
LB: Eine kurze letzte Frage: Hast du schon ein nächstes Projekt?
VV: Ja, und das ist jetzt eine ganz exklusive Vorschau. Sonst weiß noch niemand irgendetwas davon! Es ist noch komplett in der Anfangsphase, aber meine Produktionsfirma hat die Rechte an einem Werk Roland Topors.
LB: Vielen Dank für dieses Interview!