Eingeschlossene Dunkelheit. Eine Analyse von Lockdown Tower (2022) im Vergleich zu Der Nebel (2007)
Einleitung
Guillaume Niclouxs Lockdown Tower (La Tour, 2022) beginnt mit einer kraftvollen, fast mythischen Prämisse: Ein Hochhaus wird von einer undurchdringlichen schwarzen Finsternis umschlossen. Niemand kann hinaus, das Gebäude wird zur abgeschlossenen Welt. Damit eröffnet sich ein Raum, der in der Tradition des Katastrophen- und Horrorgenres vielfältige Deutungen zulässt: als Miniaturgesellschaft, als Allegorie auf Isolationserfahrungen oder als Kommentar auf soziale Spannungen der Gegenwart.
Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass Lockdown Tower das Potential dieses Szenarios nicht ausschöpft. Das Hochhaus bleibt trotz seiner symbolischen Kraft eine weitgehend ungenutzte Kulisse, während die äußere „schwarze Nacht“ als bloßer dramaturgischer Auslöser fungiert. Ein Vergleich mit Frank Darabonts Stephen-King-Verfilmung Der Nebel (The Mist, 2007) verdeutlicht, wie ähnliche Ausgangssituationen produktiver genutzt werden können, um gesellschaftliche Dynamiken sichtbar zu machen.
1. Das Hochhaus als symbolischer Raum
1.1 Architektur und Gesellschaft
Hochhäuser fungieren im Film seit jeher als Orte verdichteter Symbolik. Sie repräsentieren einerseits Moderne und Fortschritt, andererseits Entfremdung und Anonymität. In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der Heterotopie (Foucault 1984) lässt sich das Hochhaus als „anderer Ort“ lesen: ein Raum, der gesellschaftliche Strukturen spiegelt und zugleich in sich verzerrt.
Darüber hinaus tragen Hochhäuser eine klare vertikale Logik in sich: Oben und Unten stehen metaphorisch für Klassenhierarchien, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse. Filme wie High-Rise (2015) oder Dredd (2012) haben dieses Potential ausgeschöpft, indem sie soziale Kämpfe in der Architektur selbst verorten.
1.2 Verschenktes Potential in Lockdown Tower
In Lockdown Tower bleibt dieses Potential weitgehend ungenutzt. Die Stockwerke spielen keine Rolle für die Handlung, gesellschaftliche Unterschiede werden nicht sichtbar gemacht. Das Hochhaus dient lediglich als klaustrophobische Kulisse, ohne dass seine architektonische oder symbolische Dimension für die Erzählung fruchtbar wird.
2. Die schwarze Nacht als äußere Bedrohung
2.1 Abstrakte Leere
Die das Hochhaus umgebende Finsternis ist zunächst ein starkes Bild: eine unheimliche, unendliche Schwärze, die das Gebäude isoliert. Doch diese Bedrohung bleibt abstrakt. Anders als in anderen Werken des Horrors wird sie nicht weiter ausgestaltet – es gibt weder Wesen noch Geheimnisse, die in der Dunkelheit lauern.
2.2 Vergleich mit Der Nebel
Ein Gegenbeispiel liefert Darabonts Der Nebel. Auch hier schließt ein Naturphänomen – ein undurchdringlicher Nebel – eine Gemeinschaft von Menschen ein. Doch der Nebel ist mehr als ein Setting: Er wird durch monströse Kreaturen bevölkert und zugleich als Projektionsfläche menschlicher Ängste genutzt. Dadurch erhält das Außen eine doppelte Funktion: konkrete Bedrohung und psychologisches Symbol.
Im Vergleich dazu wirkt die schwarze Nacht in Lockdown Tower dramaturgisch unterbestimmt: Sie begründet das Szenario, trägt jedoch nicht zur Steigerung von Spannung oder zur Entwicklung tieferer Bedeutung bei.
3. Gesellschaftliche Dynamiken im Ausnahmezustand
3.1 Menschen als Bedrohung
Beide Filme thematisieren das Verhalten von Menschen in Ausnahmesituationen. In Der Nebel bildet sich eine religiös-fanatische Gruppe heraus, die durch Angst und Ideologie eine gefährlichere Bedrohung wird als die Wesen draußen. Die Enge des Supermarkts wird zur Bühne für die Entfaltung von Macht und Unterdrückung.
Lockdown Tower hingegen konzentriert sich fast ausschließlich auf den Zerfall in Gewalt, Hunger und Kannibalismus. Diese Darstellung ist radikal, aber auch eindimensional: Es fehlt die Differenzierung zwischen verschiedenen Gruppen, Weltanschauungen oder Machtstrategien. Der Film reduziert die Gesellschaft im Turm auf eine homogene Masse, die unaufhaltsam in den Nihilismus abrutscht.
3.2 Fehlende Allegoriebildung
Gerade hier verschenkt der Film die Möglichkeit, das Hochhaus als Labor gesellschaftlicher Konflikte zu nutzen. Während Der Nebel eine Miniaturgesellschaft entwirft, die als Spiegel größerer gesellschaftlicher Strukturen lesbar ist, bleibt Lockdown Tower auf der Ebene einer allgemeinen Menschenfeindlichkeit stehen.
4. Filmische Umsetzung
4.1 Bild- und Tongestaltung
Die Bildsprache ist geprägt von Dunkelheit und Enge. Zwar erzeugt dies eine klaustrophobische Atmosphäre, doch durch die mangelnde Variation wirkt die Ästhetik schnell monoton. Auch das Sounddesign verstärkt eher die Beklemmung als dass es narrative Tiefe erschließt.
4.2 Figurenzeichnung
Die Figuren sind kaum differenziert; sie fungieren primär als Opfer und Täter in einem Kreislauf von Gewalt. Individuelle Motivationen oder psychologische Nuancen treten in den Hintergrund, wodurch auch das Potential der Ensemble-Situation nicht ausgeschöpft wird.
Schluss
Lockdown Tower startet mit einer starken Prämisse: ein Hochhaus, abgeschnitten von der Welt, umgeben von absoluter Dunkelheit. Doch weder der Raum des Hochhauses noch die äußere Finsternis werden als vielschichtige Symbole genutzt. Im Gegensatz zu Der Nebel, der eine Miniaturgesellschaft erschafft und das Außen als Spiegel innerer Ängste ausarbeitet, bleibt Niclouxs Film im Modus des nihilistischen Endzeitszenarios stecken.
Damit zeigt sich, dass das Potential des Hochhauses als architektonisch-symbolischer Raum ebenso verschenkt wurde wie die Möglichkeit, die schwarze Nacht als Metapher für kollektive Ängste oder gesellschaftliche Unsichtbarkeiten zu deuten. Lockdown Tower bleibt ein eindringlicher, aber oberflächlicher Beitrag zum Endzeitkino – und gerade im Vergleich mit Der Nebel wird deutlich, wie stark Räume im Horrorgenre als Träger gesellschaftlicher Reflexion dienen können.