Dass die Dinge anders liegen als noch in seinem Vorgänger Godland zeigt der Filmemacher Hlynur Pálmason bereits in seiner ersten Einstellung. Während der Hausbau leitmotivisch im dritten Film des Isländers zum Tragen kam, sehen wir eingangs in seinem vierten Film The Love That Remains, wie ein Wellblechdach von einer Hütte abgerissen wird. Eine Zeit lang schwebt es über dem bloßen Mauerwerk und Fundament, ohne dass wir den Kran sehen, der es wenig später hinfortzieht. Wie eine frühe Ankündigung spiegelt sich in diesem Bild die Scheidung des Elternpaares Magnús (Sverrir Guðnason) und Anna (Saga Garðarsdóttir), die sich weniger abrupt als schrittweise vollzieht und ihre drei Kinder Ída (Ída Mekkín Hlynsdóttir) und die Zwillinge Þorgils und Grímur (Þorgils und Grímur Hlynsson) in einem merkwürdigen Zwischenstadium zurücklässt.
Wie Godland ist auch dies im quasi-quadratischen, engen 4:3-Bildformat gehalten, gedreht auf 35-Millimeter-Film. Die epische Qualität, die dem Vorgänger allein durch die weiten Landschaften und das Ursprungsbild des Hausbaus innewohnt, wird hier durch den bruchhaften Alltag ersetzt, wenngleich die Bildkompositionen ihre Vielseitigkeit beibehalten. Zeit betrachtet Pálmason nur weitgehend chronologisch, ignoriert bisweilen aber ihr lineares Fortschreiten, wenn sich, zumeist durch extra-unscheinbare Jumpcuts, stimmigere Schnittkompositionen ausformen lassen.
Motivisch festmachen lässt sich das an einer Schießfigur, an der sich die drei Kinder bald schon mit Pfeil und Bogen abarbeiten, nachdem wir sie zunächst das Loch graben, dann einen Pfahl einlassen und schließlich eine in Ritterrrüstung gekleidete, körperhafte Zielscheibe festhängen sehen. Während die Jahreszeiten so dahinziehen und der Versuch von Mutter Anna, sich als Künstlerin mit groben Rostdrucken zu verwirklichen, nicht so recht Früchte tragen mag, sehen wir ‚Maggi‘, wie Vater Magnús allerorts genannt wird, wiederholt auf dem Fischkutter inmitten seiner schroffen Kameraden, während er zuhause allmählich den Zugriff auf seine Familie zu verlieren droht. Von den Haudegen auf die Ehekrise mit Anna angesprochen erwidert er nur Schroff: „Seht mal: Ich kenne sie, und ich kenne sie wieder nicht. Was ist daran so schwer zu begreifen?!“
Die Beiläufigkeit, in der Pálmason diese Fragmente auf scheinbar spontane Weise einfängt und assoziativ aneinanderreiht, könnte schnell in die Gehaltlosigkeit kippen, allerdings bewegen sich die Entwicklungen in The Love That Remains durchgehend zwischen Liebe, Existenzialismus und Alltäglichkeit. Und Pálmason bemüht sich gar nicht erst, Trennlinien zwischen diesen zu ziehen. Der Tod etwa ist dem Alltag hier nie gänzlich entzogen, kommt den Kindern oft beiläufig entweder zu Ohren (wenn die Geschwister erfahren, dass gewisse Süßspeisen mithilfe von Schweinegelatine hergestellt werden) oder wird von diesen selbst thematisiert.
So auch hinsichtlich des aufmüpfigen Familienhahns, der im Hühnerstall immer wieder Aggressionen zeigt. Was dazu führt, dass Anna, von der die Scheidung mit Magnús auszugehen scheint, ihren Noch-Mann anweist, sich des Gockels auf die eine oder andere Art zu entledigen. Fest darauf bedacht, die Wogen mit Anna zu glätten, versucht Magnús das Federvieh vor unseren Augen einzufangen, kommt damit allerdings das eine ums andere Mal zu spät und setzt sich stattdessen wiederholt in den Sand. Fast scheint es, als sei sich Magnús in diesem Moment der die Szenerie teilnahmslos beobachtenden Kamera bewusst, denn es dauert nicht lang, da verliert er die Geduld und nimmt, einem Impuls nachgebend, einen schweren Stein in die Hand, um dem widerspenstigen Hahn ein Ende zu setzen.
Solche Ereignisse stehen bei Pálmason allerdings nicht bloß als Schockmomente für sich. In einer später folgenden Autofahrt, in der wir die siebzehnjährige Ída am Steuer durch die grünen Weiten des nordischen Inselstaats fahren sehen, mit ihrem Vater auf dem Beifahrersitz, beginnt diese ihn ob des toten Hahns auszufragen. Zwar windet sich Magnús eingangs noch mit Lügen heraus — auch auf Nachfrage — wird dann aber schließlich doch von seinem Gewissen übermannt und gesteht seiner Tochter die schändliche Tat. Die Tochter am Steuer, die Tochter als die Instanz, die es für Magnús um Verzeihung zu bitten gilt, nachdem er ihre Schelte über sich ergehen lässt: Über die eigentlichen Machtgefälle in dieser Familie erfahren wir hier alles, was wir wissen müssen. Ohnehin zeigen sich die Kinder während dieses circa einjährigen Handlungsrahmens an weitaus mehr interessiert (was hier besonders bedeutet: an Sex), als ihnen in den meisten anderen Filmen dieser Art zugemutet würde. Ein Phänomen, das sich dadurch erklären mag, dass Regisseur Pálmason, wie schon in vergangenen Projekten, seine eigenen Kinder besetzt, ihnen jedoch hier noch weitaus mehr Szenen anvertraut als zuvor.
Die dunkle Schwere, die so manche Szene unter anderen Umständen dicht einhüllen würde, umgeht Pálmason auf ausgesprochen spielerische Weise, was auch mit der Abgeschiedenheit des Küstenorts zusammenhängen mag. Denkbar entschleunigt folgt das Leben hier einem anderen Rhythmus, und wenn fremde Elemente eindringen — etwa der schwedische Kunsthändler (gespielt von Anders Mossling), der eigens zur Betrachtung von Annas Kunst mit einer Cessna anreist, sich beim persönlichen Treffen aber für wenig anderes als Essen und Wein interessieren mag —stechen sie umso mehr heraus.
Es ist eine der effektivsten Szenen des Filmes, in der Pálmason sein Talent für zugleich naturalistischen Dialog als auch absurden Humor herausarbeitet, ein so sonderbarer wie reizvoller Raum zwischen Ruben Östlund und Roy Andersson, der jederzeit durch eine winzige Impression aufgebrochen werden kann. Wenn wir Vater Magnús gegen Ende verloren auf dem Wasser treiben sehen, mag man sich vielleicht die Frage stellen, worum wir da fast zwei Stunden Laufzeit gekreist sind. Und doch, da können wir den Titel beim Wort nehmen: Da ist etwas, das bleibt. Die Liebe. Und sie ist nicht in der großen Geste zu finden, sondern in der Zeit und den kleinen Momenten, die wir sie gefühlt, sie für einen verschwindenden Moment zu packen bekommen haben.