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Quelle: themoviedb.org

Inhalt

Natasha und Olga arbeiten in der Kantine eines geheimen sowjetischen Forschungsinstituts. Hier schlägt das Herz des DAU-Kosmos, alle kommen vorbei: die Angestellten des Instituts, Wissenschaftler*innen und ausländische Gäste wie Luc Bigé. Mit ihm beginnt Natasha eine Affäre, nachdem sie sich mit Olga über die Liebe unterhalten und in die Haare gekriegt hat. In der Badewanne und bei heiteren Trinkspielen sinniert sie über ihre Liebhaber und bezeichnet bei dieser Gelegenheit den Franzosen als „sanft“. Doch der Geheimdienst unter der Leitung von Vladimir Azhippo interveniert.

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Quelle: themoviedb.org

Kritik

Manche Filme sind größer als ihr Ruf. Das trifft wohl auf die größten Klassiker der Filmgeschichte zu, die deswegen ein so hohes Ansehen genießen, weil sie in den meisten Fällen noch heute ihrem legendären Status gerecht werden. Bei manchen Filmen ist der Ruf größer als sie selbst, wenn etwa manche Produkte der Filmkunst für den Anbeginn einer historischen Bewegung stehen oder ein neues Genre, eine neue filmische Richtung, begründen. Solche Filme sind schwer aus ihrem Kontext zu lösen. Und dann gibt es Filme, deren konkreter Inhalt sich mit dem Kontext, der zu ihrer Entstehung so sehr deckt, dass es fast unmöglich erscheint sie jenseits von diesem zu betrachten. Der Film DAU. Natasha ist ein sehr düsteres Beispiel für einen solchen Fall. In Anbetracht der schwerwiegenden Hintergründe seiner Entstehung, sowie dessen expliziten Inhaltes, fühlt es sich unangemessen an, nicht auf den Kontext dieses Filmes genauer einzugehen. Die nachfolgenden Zeilen beschäftigen sich deswegen zunächst mit dem Hintergrund und dem Dreh, sowie mit dem Skandal, den dieser nach sich zog, wonach schließlich auf den Film konkret eingegangen werden wird. 

Der DAU-Komplex und seine Folgen 

Im Jahr 2005 fasst sich der russische Regisseur Ilja Khrzhanovky (4) den Plan, das Leben des sowjetischen Physikers Lew Dawidowitsch Landau zu verfilmen. Landau galt zu Lebzeiten als Ikone in der sowjetischen Wissenschaft, beteiligte sich maßgeblich an der Entwicklung der Wasserstoffbombe und wurde unter anderem mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Weiterhin stand seine Persönlichkeit für das Ausleben von freier Liebe und war allgemein für eine Freizügigkeit bekannt, die für das sowjetische Volk unter dem totalitären Regime unter Stalin unerreichbar war. Khrzhanovsky wollte Landau in jeglicher Hinsicht ein bedeutendes, allumfassendes Denkmal errichten. Doch seine Ambitionen gingen noch weiter. Um das Leben dieses Physikers für eine vermeintlich aufgeklärten Gegenwart erfahrbar zu machen, war Khrhanovsky bereit, auch die Unterdrückung durch den Totalitarismus auf die Leinwand zu bannen. Er wandte sich deswegen der Ambition auf bedingungslose Authentizität zu, welche bald jeglichen Rahmen sprengen sollte. 

Was zunächst als normaler Dreh begann wuchs irgendwann zu einem gigantischen Experiment. In der Nähe der ukrainischen Stadt Charkiw wurde auf 12.000 Quadratmetern, dem größten Filmset Europas, „das Institut“ errichtet. Gemeint sei damit ein eigenes Labor und das umgrenzende Stadtquartier. In diesem Labor hielt sich Landau in seinen Lebensjahren 1938 bis 1968 auf und genau diesen Zeitabschnitt der russischen Geschichte wollte Chrschanowski mit seinem Großprojekt festhalten. Höchst authentisch wurde hier versucht, eine vergangene Epoche wieder zum Leben zu erwecken. Dabei wurde auf eine pedante Detailtreue gesetzt: Die Toiletten mussten umgebaut werden, um sich auch wirklich nach Toiletten aus dem Stalinismus anzuhören und die Essensrationen für die Beteiligten wurden mit Ablaufdaten innerhalb der filmisch erzählten Zeit versehen. Mobiltelefone und andere moderne Gegenstände durften nicht verwendet werden. Das größte Wagnis stellte aber schließlich das Casting dar: Gedreht wurde fast ohne professionelle Schauspieler, stattdessen ließ Khrzhanovsky rund 400 Laiendarsteller ans Set holen. Diese wurden hinsichtlich ihrer privaten Professionen ausgewählt: Reale Wissenschaftler spielten Wissenschaftler, Putzfrauen spielten Putzfrauen, Krankenhelfer spielten Krankenhelfer und so weiter. Für den Film selbst war kein Drehbuch vorgesehen. Der Grund dafür war das Khrzhanovsky diesen Cast nicht spielen, sondern sie im Institut leben lassen wollte. 24 Stunden an jedem Tag der 3 Jahre andauernden Dreharbeiten lebten die Schauspieler in ihren Rollen immersiv in der sowjetischen Vergangenheit. Die Akteure spielten dabei mit ihrem echten Namen und persönliche Biografien wurden in die filmische Handlung mit einbezogen. Die Dynamik dieser filmisch entstandenen Parallelwelt schienen die Beteiligten irgendwann so sehr verinnerlicht zu haben, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion langsam brüchig wurde. Der Dreh fand nach Angaben nahezu rund um die Uhr statt, parallel zu dem voranschreitenden Mikrokosmos des Lebens im DAU-Gelände. Die logistische Eskalation, mit der das Projekt voranschritt, war schließlich so gewaltig, dass die Eskapaden am Set von Francis Ford Coppolas Apocalypse Now im Vergleich fast wie ein verzögerter Kameratest wirken. Doch die Vergleiche mit dem Antikriegsfilm hören hier nicht auf. 

Denn im Verlauf dieser erweiterten Dreharbeiten in einem abgeriegelten, in sich selbst funktionierenden, Kosmos bildete sich irgendwann eine Dynamik heraus, die sich wohl nur mit der um Colonel Kurtz, der in Coppolas Film irgendwann von einem vietnamesischen Stamm gottgleich verehrt wird und dem in seinem Handeln keine Grenzen mehr gesetzt sind, vergleichen lässt. Nach Berichten bestand Regisseur Khrzhanovsky darauf, während des Drehs nur als „Chef“ angesprochen zu werden. Dieses Beharren auf seine unantastbare Autorität kann als erster Indikator für eine Arbeitsatmosphäre gelesen werden, welche über die Dreharbeiten hinweg von systematischer Indoktrination, Unterdrückung und Machtmissbrauch geprägt war. Die ersten Anzeichen für eine solche Atmosphäre ist sowohl in Khrzhanovskys Beharrung, das niemand am Set gegenwärtigen Begriffe wie „Internet“ oder „Mobiltelefon“ verwenden durfte, aber auch darin, dass er irgendwann anfing, ehemalige KGB-Offiziere und Neo-Nazis ans Set zu holen. Nach mehreren Angaben entstand so ein Umfeld, in dem die Beteiligten Mobbing und Gewalt ausgeliefert waren. Langsam wurde klar, dass Khrzhanovsky den dargestellten Totalitarismus nicht nur inszenieren, sondern seine Schauspieler diesen spüren lassen wollte. 

Bereits 2011 berichtete ein GQ-Reporter, welcher das Set betreten durfte, von einem solchen Umfeld: Als Eintritt erhielt er, wie alle die auf das Set kamen, einen Haarschnitt, welcher eine Art Initiationsritual darstellte und der sofort die Schikanierung, die innerhalb dieser entstandenen Gemeinde Gang und Gebe war, verdeutlichte. Seine Beobachtungen erzählen von einem System des gegenseitigen Betrugs unter den Beteiligten: Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde oftmals bei Khrzhanovsky verpetzt, um anschließend ausgegrenzt und gedemütigt zu werden. Dieser Bericht deckt sich in weiten Teilen mit den Aussagen der Casting-Direktorin Albina Kovalyova, welche dem Regisseur vorwirft, selbst zum Despoten mutiert zu sein und von einem „fiktiven Missbrauch, der zum realen wurde“ spricht. Darüber hinaus berichtet Kovalyova, sowie zahlreiche andere Beteiligte, von mehreren Gewaltakten, welche sie traumatisiert hätten. Teil dieser Gewalt schien auch der Umstand darzustellen, dass Schauspieler, welche Gefängnisinsassen spielten, teilweise mit realen Straftätern, die ans Set „importiert“ wurden, ohne Absicherung allein gelassen wurden. Andere Berichte erzählen von homophoben Angriffen durch Neo-Nazis gegen den schwulen Assistenten der Künstlerin Marina Abramovic, welche an dem Projekt beteiligt war. Einen weiteren Aspekt der Unterdrückung bezieht sich auf Khrzhanovskys Umgang mit Frauen, welche er mit sehr intimen Fragen sexueller Natur bedrängte. Dieses Verhalten ist in den Berichten zahlreicher Beteiligten dokumentiert, welche seit der Entstehung des Projektes an die Öffentlichkeit gelangten. Mehrere dieser Beteiligten geben an, an posttraumatischen Stresssymptomen zu leiden. Sämtliche andere Vorwürfe beziehen sich auf Tierquälerei, wenn in dem ebenfalls veröffentlichen Film des Projektes DAU. Degeneration schließlich explizit zu sehen ist, wie ein Schwein geschlachtet wird, aber auch auf Kindesmisshandlung, da am Set ebenfalls mehrere Waisenbabys ohne zureichende Betreuung allein gelassen wurden. Im letztgenannten Fall ermittelt die Ukraine derzeit gegen das Projekt. 

Nicht unangesprochen bleiben sollte auch die zwielichtige Finanzierung, mit der das Projekt seinen inszenatorischen Wahnsinn verwirklichte: Medienboard Berlin-Brandenburg, WDR/Arte (Deutschland und Frankreich), Hubert Bals Fund, das ukrainische Kulturministerium, X Films Creative Pool Entertainment GmbH und zahlreiche andere europäische Produktionsfirmen trugen ihren Teil bei. Dazu kommt jedoch auch die Beteiligung des russischen Oligarchen Sergei Adoniev. Es liegt die Vermutung nahe, das Adoniev das Projekt unterstützte, nachdem die staatliche Finanzierung aufgebraucht war. Bis heute sind die genauen finanziellen Umstände und die exakte Summe hinter der Realisierung des Projektes ungeklärt. Adonievs Beteiligung macht es schließlich unmöglich, die Summe umfassend zurück verfolgen zu können. Eine willkürliche Geldquelle für ein Projekt, in welchem die Willkür der Beteiligten untereinander bald integraler Bestandteil wurde. In weiteren Berichten merken einige Beteiligte schließlich an, entweder unzureichend oder gar überhaupt nicht bezahlt worden zu sein. Eine anonyme Schauspielerin spricht in einem taz-Artikel von dieser Unterbezahlung und wirft Regisseur Khrzhanovsky vor, die Armut, die in der Gegend um Charkiw herrscht, ausgenutzt zu haben. 

Regisseur Khrzhanovsky merkte in einem Interview an, die sowjetische Vergangenheit, also die Zeit, von der DAU erzählt, zu hassen. Diese Aussage wird durch die zahlreichen Anschuldigungen, die gegen ihn und sein Projekt erhoben wurden, in ein neues Licht gerückt. Es entsteht das Bild eines unauflösbaren Paradoxes: Der Versuch, den Totalitarismus des Stalin-Regimes zu bekämpfen, indem man diesen für das Publikum immersiv erfahrbar macht, aber gleichzeitig werden dieselben totalitären Methoden, rund um Folter, Ausgrenzung und besonders permanente Überwachung filmisch und real reproduziert, nicht zuletzt da der Regisseur realen, ehemaligen KGB-Offizieren hier die Möglichkeit gegeben hat, ihre Methoden auch Jahre nach Ende des Stalinismus erneut auszuleben. Die perverse Faszination, die Khrzhanovsky offenbar für diese Zeit hegt tritt so immer mehr an die Oberfläche. Neben den unzähligen Vorwürfen und Ermittlungsverfahren, die das Projekt inzwischen nach sich gezogen hat, neben einem Großprojekt, dessen Größenwahn wohl unantastbar bleiben wird, neben den angeblich 14 Kindern, die während den Dreharbeiten innerhalb der Beteiligten gezeugt wurden, entstanden schließlich 700 Stunden Filmmaterial durch die Hand von der deutschen Kameralegende Jürgen Jürges (Angst essen Seele auf, Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo) welche in dem Editionsverfahren nach der Zerstörung des Sets (welche ebenfalls in die filmische Handlung mit einbezogen wurde) zu insgesamt 14 Spielfilme und eine Serie geschnitten wurden. Dieses Filmmaterial wurde der Öffentlichkeit schließlich im Januar 2019 bei der DAU-Ausstellung in Paris präsentiert. Nachfolgend wird hier der in der Filmlandschaft wohl am meisten besprochene Film des DAU-Komplexes DAU. Natasha genauer betrachtet. 

Der Film „DAU. Natasha“

Es ist wahrscheinlich auch deswegen ratsam, auf den Kontext, sowohl des Filmes DAU. Natasha, als auch auf den der Welt, die innerhalb des Filmes porträtiert wird, genauer einzugehen, weil beide im Film selbst wenig Beachtung finden. Die gigantischen Bauten, welche das Großprojekt von Khrzhanovsky dessen zweifelhaften Ruf verschafften, sind hier nicht zu sehen. Auch der Umfang des Institutes wird nur in einer sehr kurzen Szene angedeutet. Ansonsten spielt der Film gefühlt in gerade einmal 5 Räumen und erzählt vom Leben von Natasha (Natalja Berezhnaya), welche ihrem Alltag als Kantinenarbeiterin im Institut nachgeht. Nicht nur vom Großkomplex des DAU-Geländes sieht man hier wenig, auch die porträtierte Umgebung, in der die Hauptfigur hier platziert ist, bleibt zunächst im Verborgenen. Würden es die sehr schlichten, ergrauten Uniformen der Bedienungen und Soldaten es nicht subtil vorwegnehmen, der Film könnte fast überall spielen. Weder Informationen des Instituts noch jegliche politisch-sozialen Themen aus dem Inneren sowjetischen Staates werden wiedergegeben. Dafür fokalisiert sich der Film stark an den Gegebenheiten von Natashas Routine, welche geprägt ist von zahlreichen Anfeindungen mit ihrer Mitarbeiterin Olga (Olga Shkabarnya). Doch so sehr sie sich auch angiften, Natasha und Olga haben nur wirklich einander. 

Der überstrenge Fokus des Filmes auf Routine findet bereits in der ersten Hälfte seinen Höhepunkt: Ein entstandenes Saufgelage zwischen Natasha, Olga, zahlreichen Wissenschaftlern und sämtlichen anderen Gestalten wird in seiner ganzen, unkontrollierten Hemmungslosigkeit vom Film minutenlang breitgetreten. Ewig tanzen sie umher, umgarnen sich, stoßen einander ab und ziehen sich zueinander hin. Die ausgestellte Authentizität und der beschworene Realismus sorgen schließlich dafür das in DAU. Natasha Szenen nicht einfach enden, sondern eher völlig ausformuliert werden, bis es nicht mehr weitergeht. Die Simulation des stalinistischen Staates hat zum Zeitpunkt des Drehs von DAU. Natasha offenbar schon seinen Höhepunkt erreicht: Das Spiel und die Interaktionen der Darsteller ist von Beginn des Filmes an exzessiv improvisatorisch und folgt weder einer klaren Struktur in den Dialogen, noch scheint das dargestellte Besäufnis in irgendeiner Weise filmisch kontrolliert zu sein. Viel mehr wirft einen der Film in die desorientierenden Gegebenheiten dieser Welt ohne große Rücksicht auf Identifikation oder auf die regulierenden Mächte, welche abseits der Kamera und abseits von Natashas Alltag operieren. Deswegen wirkt es zunächst auch harmlos, als Natasha beginnt, mit dem französischen Gast Luc (Luc Bigé) zu flirten, selbst wenn die darauffolgende, stark explizite Sexszene zwischen den beiden in ihrer unsimulierten Natur sehr offensiv eingefangen wird. 

Diese, ebenfalls minutenlange, Sexszene stellt sich als das erste große Zentrum des Filmes dar. Um sie kreist die erste Hälfte des Filmes und sie wird von den vorherigen Szenen gerahmt. Sie ist zunächst der Gipfel der hemmungslosen Inszenierung mit der Khrzhanovsky und Co-Regisseurin Jekaterina Oertel das Leben in stalinistischen Wänden abbilden. Jede Sequenz wird bedingungslos festgehalten und ohne weiterführende, inszenatorische Vermittlungen nachgezeichnet. Der Streit zwischen Natasha und Olga, das Besäufnis und der Sex stellen sich bei genauer Betrachtung als Momente des letzten Versuches von Intimität und Zwischenmenschlichkeit heraus. Selbst die Konflikte, die unter den Bewohnern dieser wissenschaftlichen Einrichtung existieren, stellen letzte menschliche Bastionen innerhalb einer Umgebung dar, welche ansonsten alles auf ihre reine Funktionalität reduziert. Dieses zunächst unsichtbare Machtverhältnis symbolisiert der Film durch die Kameraarbeit von Jürgen Jürges, dessen Linse in jeden Winkel und an jeden Körper herantritt. Jede Einstellung stellt irgendwann einen Angriff auf die Privatsphäre der Akteure dar, so enthemmt und gewaltsam ergreift sie sich die Kontrolle über das Bild. Es entsteht so eine Optik, welche wahrscheinlich am ehesten mit den Filmen aus dem Dogma 95-Manifest vergleichbar ist: Unkontrolliert und instabil, aber dennoch wirkt dieser filmische Blick nie subjektiv. Trotz seiner fragil erscheinenden Optik ist dieser Blick einer der von oben herab kommt, ein privilegierter, der das Präsentierte mustert und aushüllt, ein totaler Blick. 

Was die Kamera in der ersten Hälfte des Filmes subtil vermittelt wird in der zweiten Hälfte des Filmes schließlich auch innerhalb der Handlung an die Oberfläche getragen. Natasha wird in das Verhörzimmer des KGB-Offiziers Azhippo (Vladimir Azhippo) gebracht. Gegen sie liegt der Verdacht auf Verrat durch ihre Affäre mit Luc vor. Im Verlauf dieser Verhörszene wird der Umgang von Azhippo mit seiner Gefangenen immer gröber, unterschwellige Aggressionen wandeln sich zu offensiven, jegliche Kontrolle geht irgendwann verloren. Der Willkür des Offiziers ausgeliefert wird Natasha schließlich gezwungen, sich eine Glasflasche einzuführen. Sie soll sich dem sowjetischen Totalitarismus nicht nur unterwerfen und Teil dessen werden, sie muss ihn und seine Macht körperlich spüren. Mit diesem Akt der Demütigung und der endgültigen Überschreitung menschlicher Grenzen findet der Film seinen traumatischen Gipfel. Die gesamte Verhörsequenz bildet in seiner Inszenierung gleichzeitig einen Spiegel zu der Besäufnisszene aus der ersten Hälfte: beide Szenen zeichnen eine Dynamik ab, die dazu verdammt ist, außer Kontrolle zu geraten und in beiden Fällen werden wir Zeuge von etwas, was nie für uns bestimmt war. Natashas Affäre hätte verborgen bleiben sollen, genau wie selbst ein Akt staatlich unterstützter Folter nur in dunklen Räumen vollstreckt werden darf. 

Doch für die Kamera existieren solche privaten Räume nicht. Sie werden eingebunden in das Netz aus Observation in welches auch das Publikum gedrückt wird. Der Voyeurismus, zu dem der Film das Publikum immer wieder verleiten will, wird in der verhängnisvollen Verhörszene schließlich unausweichbar. Es ist ein Moment purer Entmenschlichung und stellt in Anbetracht auf die Seherfahrung des Filmes vor dem Kontext dessen Entstehungsgeschichte sowohl filmisch als auch metafilmisch eine Begegnung mit menschlicher Grenzüberschreitung dar. Das Trauma des Stalinismus wird hier endgültig reduziert auf einen konkreten, körperlichen Übergriff in alle Privatsphären. Der Akt des Sehens durch Jürges grenzenlose Kamera macht diesen Übergriff umso schmerzhafter, weil es das Gefühl vermittelt, selbst mitschuldig zu sein. Doch dann erfolgt ein Moment der Subversion: Nach dem Durchleiden körperlicher und mentaler Folter fragt Natasha Aschippo schließlich „Finden Sie mich als Frau attraktiv?“. Für einen Moment wirkt es so, als habe ihr gefallen, was man ihr angetan hätte, aber die Intention dieser Frage geht in eine ganz andere, viel komplexere Richtung: Natasha versucht die Lage irgendwie zu beherrschen. Die Möglichkeit, Aschippo vielleicht verführen, um ihn für ihren Gunsten ausnutzen, zu können, bleibt als ihr letztes Aufstreben gegen ein System, das bereits den Rest ihres Lebens inklusive ihres Körpers, eingenommen hat. Vor diesem Kontext wandelt DAU. Natasha zu der kraftvollen Frage nach dem Wert von solch einem Widerstand und wie dieser die Möglichkeit zulässt, traumatische Erfahrungen zu rationalisieren. 

Quellen: 

Umfassende GQ-Reportage von 2011: https://www.gq.com/story/movie-set-that-ate-itself-dau-ilya-khrzhanovsky

Bericht inklusive Aussagen von Albina Kovalyova: https://news.artnet.com/exhibitions/ilya-khrzhanovsky-1451311

Aufzählung zahlreicher Vorwürfe gegen das Projekt mit weiteren Aussagen von Kovalyova: https://www.washingtonpost.com/nation/2019/01/25/hundreds-ordinary-people-spent-two-years-role-playing-soviet-totalitarianism-were-they-abused-art/#comments-wrapper

Berichte bezüglich Chrschanowskis Umgang mit Frauen am Set: https://taz.de/metoo-auf-der-Berlinale/!5666717/ 

Aufführung sämtlicher Erfahrungsberichte der DAU-Beteiligten: http://os.colta.ru/cinema/projects/70/details/16912/page3/

Bericht zu den Vorwürfen der Missachtung der Betreuung von Waisenbabys: https://112.international/society/scandal-over-dau-film-creators-accused-of-abusing-rights-of-kids-actors-50763.html

Umfassender Beitrag zum Werdegang des Projekts: https://www.spectator.co.uk/article/apocalypse-dau

Bericht mit Informationen zu Sergei Adoniev und der Finanzierung: https://www.tagesspiegel.de/kultur/dau-connection-im-fokus-wer-steckt-hinter-dem-berliner-mauerprojekt/22941444.html

Fazit

„DAU. Natasha“ bleibt in Bezug auf seine Entstehung, welche sich in jeglicher Hinsicht mit der selbsternannten Intention von der Verdammung des sowjetischen Totalitarismus beißt, eine kontroverse und extrem paradoxe Erfahrung. An dieser Stelle erhält der Film deswegen auch keine konventionelle Wertung von 1 bis 10, da es sich unpassend anfühlt, das möglicherweise beim Dreh entstandene Leid in eine Punktskala zu zwingen und der Film sich nicht wirklich „empfehlen“ lässt. Dennoch aber ist es ein Film, der herausfordert und sei es nur in Hinblick auf die Frage, wie sich Trauma als Bestandteil eines Widerstands gegen ein unmenschliches System herausbilden kann, oder wie man einem Werk, entstanden aus einem dehumanisierenden Hintergrund begegnen kann.

Kritik: Jakob Jurisch

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