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„Film is the art of frustration“ - Interview mit Oliver Laxe zu „Sirāt“
Von Lidanoir in „Film is the art of frustration“ - Interview mit Oliver Laxe zu „Sirāt“
am Samstag, 29 November 2025, 22:57 Uhr
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Für sein existenzialistisches Epos wurde Oliver Laxe in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, und geht dazu als spanischer Kandidat für die Oscars ins Rennen. Auf dem Marrakech International Film Festival, wo Sirāt in der Sektion 11thContinent, die visionäre Filme mit Mut zu unbeschnittenen Wegen feiert, sprach der Regisseur über die spirituelle Ebene seines Werks, die philosophischen Motive, Tod und Tanzen.
Lida Bach: Der Titel deines Films hat einen besondere Bezug zur Unterwelt. Was bedeuten diese religiösen und spirituellen Themen für dich?
Oliver Laxe: Jeder Film ist ein Spiegelbild der Werte der Filmschaffenden, ihrer Kosmologie, seiner Sicht auf das Leben. Für mich ist das Leben ein Sirāt, Sirat al-Mustaqim, „der richtige Weg“. Ich denke, das Leben ist eine Prüfung, sich selbst zu verbessern, um nach dem Tod zu transzendieren. Das ist von größter Bedeutung in der muslimischen Sufi-Kultur. Als Mensch und als Filmemacher mache ich mir darüber Gedanke. Es ist ein harter Film: Menschen leiden, Menschen sterben. Aber aus dieser kulturellen Perspektive ist das Problem nicht der Tod an sich, da der vorherbestimmt ist. Man stirbt eben.
Niemand hat gefragt: „Warum ist der oder der Charaker gestorben? Er war doch so nett.“ Nein, das wäre eine absurde Frage. Die eigentliche Frage ist: Wie ist er gestorben? Ist er in Würde gestorben? Konnte seine Seele ins Jenseits aufsteigen? Waren die Werte stärker als das Ego? Ich glaube, in Sirāt geht es darum, und in meinem Leben geht es darum. Für mich ist dieser Film, oder meine künstlerische Praxis auch eine Art spirituelle Praxis. Ich habe Angst, ohne Würde zu sterben. In Marokko und anderen muslimischen Ländern hört man oft den Satz „Inna lilahi wa inna lilahi raji'un“ hört, was bedeutet: Wir kommen von Gott und wir kehren zu Gott zurück.
Diese Worte werden verwendet, wenn Menschen sterben oder wenn die eigene Kultur zerstört wird. Man sieht Menschen, die alles verloren haben, aber die Art, wie sie das akzeptieren und eine Art von Distanz schaffen – man spürt es in diesem Satz, man spürt es in ihrer Stimme, diesen Glauben. Hoffentlich kann ich dieses Niveau erreichen.
LB: Hast du durch die Regiearbeit mehr über dich selbst gelernt? Wie haben Sie sich beim Drehen dieses Films kennengelernt? Ja, ja, auch ganz allgemein. Und wie beeinflussen deine Erfahrungen hinter der Kamera deine Geschichten?
OL: Alles, was man tut, ist Übung. Ein Künstler gibt sich seinem Metier hin. Er weiß nicht, wohin die Reise geht. Das Leben drängt einen ständig an den Rand des Abgrunds. Es will, dass man springt - und anscheinend ohne Netz bietet. Meine Arbeitsweise als Filmemacher ist daher langsam, denn es braucht Zeit, mehr Vertrauen zu fassen und die Angst zu überwinden, ins Ungewisse zu springen, weil es immer ein Netz gibt. Immer. Das ist wahrscheinlich der Schlüssel zu meiner künstlerischen Praxis, und wahrscheinlich ist das der Grund, warum Sirāt etwas Besonderes ist.
Natürlich habe ich Ängste, ich habe ein Ego, ich bin ehrgeizig, ich projiziere mich nach Cannes. Aber irgendwann weiß ich, dass ich springen muss, und ich weiß, dass es ein Netz gibt. Ich weiß, dass mich selbst ein Scheitern wachsen lässt. Natürlich wünsche ich mir Erfolg, ich möchte Preise in Cannes –, aber irgendwann spüre ich auch eine andere innere Stimme, die mir sagt: Wenn es ein Misserfolg ist, wird das gut für dich sein. Wenn es dein letzter Film ist, wirst du daran wachsen. Du wirst das erreichen, was das Leben von dir verlangt. Was die Zuschauer auf besondere Weise schätzen, ist die Freiheit des Autors. Was sie von diesem Kunstwerk aufnehmen, ist diese Freiheit. Ich behaupte nicht, dass ich ein völlig freier Mensch bin. Das bin ich nicht. Aber ich bin, glaube ich, ein wenig mehr mit meinem Wesen verbunden als die meisten Filmemacher. Es gibt Filmemacher, die noch stärker verbunden sind.
LB: In Sirāt kommt das Sterben, von dem du sprachst, abrupt, radikal und zugleich unerbittlich. Ist das ein Sinnbild für den gegenwärtigen Zeitgeist?
OL: Ich empfinde den Tod in meinem Leben nicht als grausam. So muss es sein. Ja, sie sterben in meinem Film, aber wie sie sterben! Tanzend! Ich würde gerne tanzend sterben. Wenn man stirbt, während man feiert oder mit sich selbst verbindet, dann - wow! In meinen Augen ist dann die Seele transzendent. Der Tod ist das Tor zur Ewigkeit. Von hier aus ist es für uns Menschen schwer, die Regeln des Lebens zu begreifen. Wir hängen sehr an Dinge, die wir zu glauben brauchen, aber das Leben gibt uns, was wir wirklich brauchen. Es ist oft schwer zu verstehen, was der Sinn war, gerade dieses Kind; welche Folgen sein Tod hat. Wahrscheinlich auch gute. Für mich ist das komplex. Aber ich zweifle nicht daran, dass es so sein muss und dass es einen Grund gibt - selbst für das Schlimmste, Schmerzlichste. Wie der Verlust eines Kindes. Wenn ich mit Vätern spreche, die ihre Kinder verloren haben, kann ich das bestätigen. Dass selbst das ein Geschenk sein kann. Das ist leicht gesagt …
LB: Die Figur der vermissten Tochter ist interessant als Projektionsfläche von Verlustgefühlen und Erinnerungen.
OL: Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich in Marokko bin, aber es fällt mir leichter, arabische oder muslimische Begriffe zu verwenden. Dhikr bedeutet Erinnerung. In gewisser Weise besteht das Leben also darin, sich an unseren göttlichen Zustand zu erinnern. Dhikr ist wie ein Mantra, bei dem wir diese göttlichen Namen rezitieren. Und das Leben ist der Prozess des Verlusts dieses Zustands. Ja, in Sirāt geht es um Verlust. Als Mensch verliert man vom ersten Tag an: seine Gesundheit. Als Mensch emanzipiert zu sein, bedeutet damit umzugehen, dass man ständig verliert.
Als wir diesen Film drehten, waren wir sehr mit diesem Schmerz verbunden, der uns umgibt. Dieser kreative Prozess diente dazu, uns mit dieser Wunde zu verbinden, die ich und wir alle haben. Das meine ich nicht dramatisch. Es ist etwas, das wir tun müssen, um mehr Ausgeglichenheit zu finden.
LB: Wie vereinst du deine filmische Vision mit den Unwägbarkeiten beim Dreh in der Wüste und mit Laien?
OL: Filmemachen ist eine Kunst der Frustration. Man muss mit seiner Frustration umgehen. Selbst Hindernisse sind ein Geschenk. Ich wachse mit jedem meiner Filme. Mein Glaube wächst. Glaube bedeutet, etwas anzunehmen, ein Hindernis als Geschenk zu sehen. Als Filmemacher erkennt man beim Schneiden eines Films, dass Kunst vom Zufall lebt. Man versucht, beim Drehen Vertrauen zu haben. Es gibt ständig Probleme - ich suche nach Problemen. Ich drehe nicht in der Natur, weil es beeindruckend ist. Nein, ich drehe in der Natur, weil die Natur einen herausfordert. Die Natur sorgt für einen, treibt einen aber auch an den Rand des Abgrunds.
LB: Du suchst also gezielt die Herausforderung?
OL: Ja, denn so kann der Film über sich selbst hinauswachsen. Die Kontrolle ein Stück weit zu verlieren, haucht den Bildern Leben ein. Wir haben etwa die Rave-Szene gedreht, aber nicht kontrolliert. Ich habe ein radikales Vertrauen in die Bilder - und in die Zuschauenden.
LB: Was hat dich inspiriert, elektronische Musik zu einem Kernelement der Handlung zu machen?
OL: Elektronische Musik oder Techno-Musik steht der Volksmusik und traditionellen Musik sehr nahe. Es geht um die Atmung, es ist wirklich kathartische Musik. Die gesamte Musik ist eng mit dem Atem und dem Herzrhythmus verbunden. Und man kann Stampf-Elemente hören. Durch die Wiederholung dieser Elemente haben wir in zwei Dimensionen gearbeitet. Die erste, eher physische mit Techno, dann die existenzialistische Musik. Schließlich die Ambient-Musik, der am Ende sakraler Musik folgt. Der Schlüssel zu meiner Arbeitsweise ist die Außerkraftsetzung der rationalen Wahrnehmungsebene. Ich vertraue aber auch auf unseren Körper als Werkzeug, um Dinge zu fühlen, die wir vielleicht nicht verstehen, aber doch begreifen.
LB: Alle Schauspieler im Film, außer Sergi Lopez, sind Laien. Wie hast du die Darstellenden gefunden und wonach suchst du bei Menschen, die du in diesem Film wolltest?
OL: Natürlich sucht man nach dem Geheimnisvollen, nach Verborgenem, nach ihrer Tiefe, aber auch Wahrheit. Es ging darum, verletzliche Menschen zu zeigen. Es gibt ein gutes Gleichgewicht zwischen Stärke und Zerbrechlichkeit. Auch ich bin verletzlich. Zuschauende sind verletzlich. Deshalb sehen wir auf der Leinwand gern verletzliche Menschen. Diese fragile Energie finde ich wunderschön. Wenn wir Sirāt sehen, sehen wir, dass diese Menschen im Leben kämpfen. Man spürt auch, dass sie über sich hinauswachsen. Sie haben Schmerz erfahren, aber überwinden ihn. In gewisser Weise ist dieser Film eine Gemeinschaft verletzter Menschen. Er ist wie eine Familie; die Freundschaft von Menschen, die erkannt haben, dass sie zerbrochen sind. Es ist, als würden die Raver zu Luis sagen: „Willkommen zu Hause. Jetzt verstehst du uns besser.“
LB: Welche Filmschaffende und Autor*innen inspirieren die bei deiner filmischen Arbeit?
OL: Ich mag Pasolinis radikale und direkte Suche nach Schönheit. Eine Explosion der Schönheit. Ich stehe allerdings eher in der Tradition transzendentaler oder spiritueller Filmemacher wie Tarkowski oder Bresson … David Lynch… Visconti … Antonioni inspiriert mich wirklich. In meinem Kino stecken zwar Existenzialismus und Metaphysik, die in Pasolinis und Antonionis Filmen kaum vorkommen, aber er war ein Filmemacher, der verstand, was ein Bild ausmacht. Kunst dreht sich um Proportionen. Bilder drehen sich um Proportionen. Man spürt etwas durch das Bild. Man spürt die Entfremdung.
LB: Vielen Dank für das Interview!
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