Wer ist Jäger? Und wer der Gejagte? Das Sujet der diesjährigen Viennale wirft diese Frage mit einem historischen Motiv auf. Ein Fuchs, der sich totstellt und ein Vogel, der ihn angreift. Grenzen verschwimmen. Wer hier letztlich Beute und wer der Täter ist, bleibt ungewiss. Eine Doppeldeutigkeit, mit der Österreichs größtes Filmfestival bereits im Sommer für negative Reaktionen in den sozialen Medien sorgte. Die Übertragung auf reale Ereignisse liegt nahe und während die Öffentlichkeit sich nach klaren Antworten, nach einer eindeutigen Positionierung, sehnt, sind viele (mit Blick auf Russland sicherlich nicht alle) Konflikte zu komplex, um sich auf eine Seite zu schlagen. Es ist ein Motiv, dass nicht recht in die gewünschte Eindeutigkeit des Zeitgeistes passen will und nichtsdestotrotz kaum passender sein könnte. Zumindest für eine Veranstaltung, die Widersprüche nicht krampfhaft auflösen muss, sondern diese aushält und (produktiv) nebeneinander stellt.
So beschäftigen sich beispielsweise mehrere Filme der am heutigen Donnerstag startenden Festivalausgabe mit dem Krieg im Nahen Osten - und das aus unterschiedlichsten Perspektiven. Während der israelische Regisseur Nadav Lapid in Yes einen satirischen Blick auf seine Landsleute wirft, widmet sich die Doku Holding Liat einer von der Hamas entführten Friedensaktivistin. Fehlen darf im Programm selbstverständlich auch nicht der jüngst in Venedig ausgezeichnete und vieldiskutierte Film The Voice of Hind Rajab über die letzten Stunden einer 5-jährigen Palästinenserin. Doch nicht nur realpolitische Themen finden auf der Viennale ihren Platz. Christian Petzold, der das Festival mit seinem neuesten Film Miroirs No. 3 eröffnet, übernimmt mit diesem Jahr außerdem die Rolle des Präsidenten. Im Interview mit dem ORF sagte der deutsche Regisseur:
Zur österreichischen Innenpolitik, da kenne ich mich nicht aus – ich glaube, ich muss da eine andere Sprache finden.
Wer Petzold kennt, ahnt, dass er damit die Sprache des Kinos meint. Eine Politik der Bilder, abseits von Parolen. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Themen, die nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene stattfindet, sondern ausgehend von der filmischen Form gedacht wird. Eine Position, die sich sicherlich auch mit der Eva Sangiorgis deckt, die seit 2018 die künstlerische Leitung des Festivals innehat und für das gesamte Programm verantwortlich zeichnet. Ihre Auswahl schreckt auch vor experimentellen Werken und der filmischen Avantgarde nicht zurück.
Die Viennale ist neben dem Toronto International Film Festival das einzige, das von der FIAPF in der Kategorie Festival ohne internationalen Wettbewerb akkreditiert ist. Die FIAPF ist jene Organisation, die auch den Status der 14 A-Festivals vergibt, die angeführt von Cannes die Speerspitze der internationalen Festivalszene bilden. Während bei A-Festivals eine internationale Jury Preise vergibt und im Rahmen derer Wettbewerbe nur Weltpremieren zugelassen sind, versteht sich die Viennale als Best-of Festival. Ein Ort also, an dem die besten und relevantesten Filme der vergangenen Festivalsaison ihre Premiere in Österreich feiern dürfen. Der hohe Stellenwert des Festivals innerhalb der Filmschaffenden selbst, zeigt sich unter anderem daran, dass der Festivaltrailer jedes Jahr als Kurzfilm von eine*r international renommierten Regisseur*in inszeniert wird. Dieses Jahr Awakening von Joanna Hogg, den man auch auf Youtube sehen kann.
Kuratiert sich ein solches Best-of Festival also praktisch von allein? Auf den ersten Blick könnte man meinen, ja. So finden sich im Programm neben zahlreichen silbernen selbstverständlich auch die vergoldeten Preisträger aus Cannes (It Was Just An Accident), Venedig (Father Mother Sister Brother) und Locarno (Two Seasons, Two Strangers). Der Gewinnerfilm der Berlinale fehlt in dieser illustren Aufzählung höchstwahrscheinlich nur deshalb, weil er seine reguläre Kinoauswertung bereits hinter sich hat. Schon auf den zweiten Blick wird jedoch klar, dass es dieses offensichtliche Überangebot an in Frage kommenden Filmen nicht unbedingt erleichtert, eine passende Auswahl zu treffen. Worauf also achten? Welche Filme will, welche Filme muss man vielleicht sogar zeigen? Zu dieser Zeit und an diesem Ort. Und wie treten die Filme miteinander in Diskurs? Die Viennale selbst beschreibt ihre Programmauswahl wie folgt:
Wie in jedem Jahr setzt sich unser Filmprogramm auf ebenso tiefgreifende wie aufrichtige Weise mit der Unruhe und den Erschütterungen auseinander, die unsere Gegenwart bewegen – ohne dabei die große Tradition des Kinos aus dem Blick zu verlieren.
Diese Erschütterungen sind weitreichend. Von der Vergangenheit lassen sich ihre Spuren über die Gegenwart bis in die Zukunft verfolgen. Die Filme spüren diesen Spuren nach. Die Viennale ist in erster Linie der Kunst gewidmet, im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit den Filmen. Auch wenn die Liste der namhaften Gäste lang ist, verkommt deren Anwesenheit nicht zu einem prominenten Schaulaufen. Sie sind als Filmschaffende und Künstler*innen anwesend, um ihre Werke zu diskutieren. James Benning (13 Lakes), Juliette Binoche (High Life), Willem Dafoe (Antichrist), Julia Ducournau (Titane), John C. Reilly(Magnolia) und Lucretia Martel (Zama) sind nur einige der klangvollen Namen, die dem Publikum nach dem Film oder in eigenen Gesprächsformaten Rede und Antwort stehen.
Auch die erwähnte Tradition des Kinos findet alljährlich in mehreren Retrospektiven ihr Echo. Die einzige vom Festival selbst so benannte, widmet sich in diesem Jahr dem französischen Filmemacher, Kritiker und Theoretiker Jean Epstein, der unter anderem für seine frühe Adaption von Edgar Allan PoesThe Fall of the House of Usher bekannt ist. Vor allem das heimische Publikum darf sich darüber freuen, die Filme der Retrospektive auch nach dem Festival im österreichischen Filmmuseum genießen zu dürfen. In der losen Reihe Historiografie zeigt die Viennale kürzlich restaurierte Filme, darunter John Fords Stummfilm-Western 3 Bad Men. Sogenannte Monografien gibt es unter anderem zum Werk von Digna Sinke (After The Tone) und Angela Summereder (Aus dem Nichts).
Zu zahlreichen Filmen des Festivals gibt es auf Moviebreak bereits Kritiken. Eine Auswahl davon wird euch in den kommenden Tagen erneut begegnen. Einige werden eine zweite Meinung bekommen und wiederum andere Werke werden erstmals besprochen. Das komplette Programm der diesjährigen Ausgabe der Viennale findet ihr hier.