Mit Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes vollzieht Edgar Reitz eine beeindruckende Rückkehr zur großen Leinwand. Inszeniert mit der gewohnten Sorgfalt vereint das historische Kammerspiel philosophische Betrachtung, biografisches Bildnis des Denkers Gottfried Wilhelm Leibniz und atmosphärische Allegorie auf intellektuell und ästhetisch gleichsam reizvolle Weise. Im telefonischen Gespräch mit Lidanoir teilt der prägende Regisseur seinen Blick auf die Entstehung seines Film, der in der Special Sektion der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, Philosophie in der Gegenwart und die Suche nach der Wahrheit im Bilde.
Lida Bach: Schönen guten Tag, Herr Reitz. Ich freue mich sehr, dass Sie hier zum Interview da sind - leider nur am Telefon und nicht direkt bei Ihnen in München.Wie geht es Ihnen?
Edgar Reitz: Ganz gut. Es ist ein bisschen Stress zurzeit. Aber ist alles okay.
LB: Zu Ihrem letzten Film Leibniz - Chronik eines verschollenen Bildes. Es geht darum, ob einen der großen Philosophen der deutschen Geschichte: Gottfried Wilhelm Leibniz. Welche Verbindung haben Sie zu dieser historischen Persönlichkeit?
ER: Leibniz hat mich schon in meiner Schulzeit fasziniert. Das ist natürlich kein Grund, einen Film darüber zu machen. Er begegnete mir vor zehn Jahren ein weiteres Mal. Das begann mit einer Anfrage. Zum 300. Todestag, der im Jahr 2016 war, da wollte man zum Gedenken eine Veranstaltung machen und einen Film herstellen. Aber das Projekt ist damals nicht zustande gekommen. Das hat mich aber dazu gebracht, mich mit der Figur nochmal auseinanderzusetzen und meine Erkenntnisse aufzufrischen. Aber auch das ist noch nicht der Grund, den Film zu machen.
Einen Film macht man, weil man Freude daran findet, eine Geschichte auszudenken, in der so eine Figur eine Rolle spielt. Und das war der eigentliche Einfall: die Geschichte, dass er porträtiert wird. Mich interessierte die Frage, wie steht der Philosoph zu der Frage der Wahrheit im Bild. Das ist eine Frage, mit der wir uns heute wirklich herumplagen.
LB: Und es ist natürlich auch eine Frage, die beim Filmemachen eine große Rolle spielt: die Wahrheit im Bild. Glauben Sie, dass eine solche Wahrheit möglich ist oder dass das Bild letztlich immer nur eine persönliche Interpretation sein kann?
ER: Das wird so sein. Und das Studium von Leibniz führte mich dann zu seinen Gedanken. Er hat sich mit diesem Thema auch auseinandergesetzt und kam eigentlich zu dem Schluss, dass es eine Wahrheit im Bild nicht gibt. Weil derjenige, der das Bild macht, immer eine subjektive Sicht haben wird, und darum diese subjektive Wahrheit verkünden, wenn er das Bild macht und dabei seine eigenen Interessen verfolgt. Jeden Tag sehen wir, dass Milliarden von Bildern hergestellt werden, die nicht mit der Absicht hergestellt werden, die Wahrheit zu ergründen. Die Frage ist: Gibt es überhaupt eine Wahrheit im Bild? Diese Frage muss ich als Filmemacher unbedingt mit Ja beantworten können. Sonst verliert meine Arbeit ihren Sinn. Und damit kommen wir auf die künstlerische Wahrheit. Das ist eine andere Haltung gegenüber dieser Frage, aus der künstlerischen Sicht heraus. Es gibt eine Fragestellung, auf die es eine künstlerisch richtige Antwort geben muss. Und das ist es, was wir uns als Thema vorgenommen haben.
LB: Ist also die Figur im Film, mit der Sie sich eher identifizieren, die Malerin Aaltje Van De Meer und nicht der Philosoph Leibniz?
ER: Ja, das würde ich sagen. In der Begegnung zwischen Leibniz und der Malerin findet die Malerin die eigentliche Antwort auf die Frage, die er hat. Mit der Philosophie kann man da keine Antwort finden. Das erkennt er auch. Das ist das Erstaunliche, dass Leibniz vor 300 Jahren auf einer so aktuelle Frage, wie wir sie heute haben, schon eine so imponierend richtige Antwort hatte.
LB: Die Malerin lebt in einer Zeit, in der die Malerei Frauen kaum zugängliche war, und die meisten Akademien Frauen nicht zuließen. Warum haben sie diese Rolle einer weiblichen Figur zugedacht?
ER: Die Figur der Aaltje Van De Meer ist fiktiv. Wir erzählen ja eine Geschichte in einer bestimmten Zeit. Es war eine große Zeit der Malerei. Nicht nur in den Niederlanden, wo sie herkommt, sondern auch in Italien, wo es Malergrößen wie Caravaggio gab. Damals spielte die Malerei eine ähnlich bedeutende Rolle wie die Fotografie heute. Deswegen war mir ein großes Anliegen, eine Malerfigur zu erfinden, die zu dieser Frage Antworten bereithält. Eine Frauenfigur ist dafür viel geeigneter, weil sie sich mit diesem Berufsbild viel mehr auseinandersetzen muss, aufgrund der Widerstände, die in dieser Zeit gegenüber ihrem Beruf gegolten haben. Das ist der Vorteil der Benachteiligung - wenn man das so sagen kann - dass damit eine Reflexion über Sinn und Hintergrund des eigenen Tuns verbunden sein muss. So kann sich eine Frauenfigur tiefer noch in die Malerei-Fragen der Zeit eindringen.
LB: Dennoch orientiert sich diese Malerin an großen männlichen Malern, wie eben Caravaggio oder Vermeer, aber nicht etwa an den großen Malerinnen der Epoche. Rachel Ruysch, Judith Leyster, Artemisia Gentileschi …
ER: Es gab wunderbare Malerinnen, das hat ja auch den Ausschlag gegeben. Die Malerin war nicht als eine reine Fiktion gedacht oder eine aus unserer Zeit herübergetragene Idee, sondern ist angeregt durch die wunderbaren Malerinnen dieser Zeit.
LB: Gerade an die Malerei Caravaggios erinnert Ihr Film auch auf visueller Ebene. War Caravaggio ein Einfluss? Und was bedeutet seine Malerei für Sie persönlich?
ER: Das Entscheidende bei Caravaggio ist diese Malerei auf dem dunklen Grund. Er hat das Licht gemalt. Er hat als Maler das Licht entdeckt. Wenn man heute die Bilder von Caravaggio anschaut, wirken viele davon wie Szenen aus einem Film. Das Filmlicht, wie wir es heute haben, ist von Caravaggio auf merkwürdige Weise vorweggenommen. Das hat uns total fasziniert. Mein Kameramann ist nach Italien gefahren, um verschiedene Caravaggio-Ausstellungen zu sehen. Er kam zurück und sagte, er lernt dabei mehr über Licht und Beleuchtung als von unseren Kameraleuten.
LB: Die andere zentrale Figur ist natürlich der Philosoph Leibniz. Welche Rolle hat aus Ihrer Sicht die Philosophie in der heutigen Zeit? Gibt es den klassischen Philosophen überhaupt noch?
ER: Ich denke, dass das Philosophieren zum Menschsein hinzugehört. Das muss nicht professionelles, akademisches Philosophieren sein, aber das Nachdenken über die Zusammenhänge des Lebens und die Zusammenhänge der Natur macht eigentlich die Basis der menschlichen Kultur aus. Insofern habe ich mich selbst immer auch zur Philosophie hingezogen gefühlt. Es ist sehr erstaunlich zu sehen, wie schon vor 200 Jahren Fragen gestellt wurden, die uns jeden Tag heute noch beschäftigen.
LB: Zentral verbunden mit Leibniz ist der Begriff des Genies. Glauben Sie, dass dies eine Überhöhung ist und eigentlich jeder Mensch dieses Genie hat? „Genie“ bedeutet ja im Grunde nur „Geist“.
ER: Leibniz war ein sogenannter hochbegabter Mensch, der in frühester Jugend zum Beispiel eine ganze Reihe von Sprachen spielerisch erlernte. Im Selbststudium hat er sich Latein und Griechisch beigebracht. Aber das ist nicht der eigentliche Hintergrund, der mich interessiert. Was mich interessiert ist, diese Einsicht, diese universelle Betrachtung der Welt. Zu sagen, alles ist mit allem verbunden. Das ist eine absolut moderne Sicht, die Leibniz in dieser Zeit entwickelt hat. Alles ist mit allem verbunden und trotzdem ist nichts zweimal auf der Welt. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit, dass das individuelle, Persönliche mit allem trotzdem verbunden ist, ist eine faszinierende Sicht. Sie hilft mir auch heute sehr.
LB: Der Film war ursprünglich geplant als weit größer angelegtes Geschichtspanorama. Dann haben Sie sich jedoch für eine kammerspielartige Handlung entschieden. Was waren die Hintergründe?
ER: Das ist immer schwer zu sagen, wie eine Idee entsteht. Beim Treffen mit meinem Co-Autor kam diese Idee angeflogen wie eine Inspiration. Wir haben darauf nicht hingearbeitet. Plötzlich sahen wir in dieser Situation die Lösung für unser gesamtes erzählerisches Konzept.
LB: Wie verlief die Auswahl der Schauspielenden für diese komplexen Rollen? Wie haben Sie Edgar Selge als Richtigen für Leibniz‘ Rolle gefunden?
ER: Bei einer solchen kammerspielartigen Erzählung kommt es sehr auf die Qualität der Schauspieler an. Wir haben uns gleich gesagt, dieses Konzept funktioniert nur, wenn wir mit exzellenten Schauspielern arbeiten können. Der Erste, den ich ansprach, war Edgar Selge. Er hat innerhalb von Minuten sofort zugesagt, ohne das Drehbuch zu kennen, nachdem ich ihm kurz geschildert hatte, um was es ging. Er war wie erlöst, eine solche Aufgabe zu bekommen. Von dort aus haben wir um ihn herum die Besetzung aufgebaut. Lars Eidinger war die perfekte Wahl für eine Karikatur eines Malers der damaligen Zeit. Dazu mussten wir einen Komödianten haben, der Spaß an der Groteske hat. Es war eine wunderbare Produktion. Die Mitwirkenden und die Darsteller waren begeistert vom Projekt und haben in großer Harmonie und Hingabe miteinander gearbeitet.
LB: Wie entstand die außergewöhnliche Optik des Films, dessen Szenen oft selbst Gemälden gleichen?
ER: Wir haben ein halbes Jahr vor Drehbeginn Licht-Experimente gemacht. Wir haben Experimente mit verschiedenen Objektiven, mit Flachbildkamera und mit Camera obscura gemacht. Dabei entwickelte sich das Konzept für die Bildästhetik.
LB: Eine hintergründige Thematik ist der Verlauf der Zeit, auch das eigene Altern. Sind das Themen, über die Sie nachdenken, auch mit Blick auf Ihr filmisches Werk?
ER: Man kommt an so eine Frage ja kaum vorbei, weil das Thema Zeit auch zwischen der Malerin und dem Leibniz ein großes Thema wird. Leibniz hat eine Zeittheorie entwickelt, die der heutigen Physik sehr nahe kommt. Er kam zu dem Schluss, dass es die Zeit als solch gar nicht gibt, sondern er definierte Zeit als Bewegung im Raum. Das würde heute ein moderner Physiker genauso sagen. Aber jetzt hat er es plötzlich mit einem anderen Aspekt der Zeit zu tun, nämlich mit der Zeit, in der ein Kunstwerk entsteht. Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob das Werk die Zeit widerspiegelt, die man mit dessen Anfertigen verbracht hat. Wird Zeit in einem Bild gespeichert? Damit sind wir wieder ganz nah an dem elementaren Filmthema.
Film und Zeit sind untrennbare Phänomene. Der Film ist das Medium, das die Menschheit zum ersten Mal in die Lage versetzt hat, Zeit zu speichern im Werk, Zeit aufzubewahren, Zeit als Dokument zu behandeln. Damit stehen wir auf einmal, während wir den Film machen, vor uns selbst und betrachten, unsere eigene Lebenszeit und erkennen, dass wir im Grunde nichts anderes tun, als das abzubilden. Die Lebenszeit verwandelt sich in Filmzeit.
LB: Nun, nachdem Sie sehr viel Zeit in dieses Projekt investiert haben, arbeiten Sie bereits an einem neuen oder haben Sie eine Idee?
ER: Ja, aber darüber möchte ich jetzt nicht sprechen. Ich bin da abergläubisch. Über eine Idee zu sprechen, bevor sie Gestalt angenommen hat, mache ich nicht gerne. Aber natürlich denke ich über sowas nach.
LB: Dann darf ich so viel festhalten, dass Sie auf jeden Fall eine Idee haben. Aber die Idee selber wird noch nicht verraten.
ER: Die wird nicht verraten.
LB: Vielen Dank Herr Reitz für dieses wunderbare Gespräch!