Bereits ihre früheren Werke Das Leben gehört uns und Notre Dame - Die Liebe ist eine Baustelle fanden internationale Resonanz. Nun präsentiert Valérie Donzelli mit At Work im Wettbewerb von Venedig das Drama eines aspirierenden Schriftstellers, der seine berufliche Sicherheit aufgibt, um seinen künstlerischen Zielen zu folgen. Im Interview mit Lidanoir am Rande der Filmfestspiele gewährt die Regisseurin, die selbst eine Nebenrolle übernahm, erhellende Einblicke in ihre Auseinandersetzung mit der diffizilen Thematik und ihre Arbeit vor und hinter der Kamera.
Lida Bach: Dein Film handelt von einem privilegierten Mann aus der oberen Mittelschicht, der beschließt, seinen Traum von der Schriftstellerei zu verwirklichen und dafür ein Leben als Arbeter der Gig Economy ausprobiert. Was hat dich an dieser Geschichte fasziniert?
Valérie Donzelli: Nun, er beschließt eigentlich nicht, seinen Status zu senken, um seinen Traum zu verwirklichen. Er hört mit dem Fotografieren auf, weil es für ihn keinen Sinn mehr ergibt, damit weiterzumachen. Er hat das Gefühl, einen Job, der vor langer Zeit mal eine Leidenschaft für ihn war, nur noch auf völlig mechanische Weise zu erledigen. Er muss erst wieder einen Sinn in seinem Leben finden und widmet sich daher seiner anderen Leidenschaft, nämlich dem Schreiben.
Er veröffentlicht auch einiges, es klappt also, aber nach einer Weile wird ihm klar, dass er von seinem Job als Schriftsteller nicht leben kann. Daher ist er gezwungen, kleine Jobs anzunehmen und seine laufenden Kosten zu senken. Ein Buch zu schreiben allein bringt noch kein Geld ein, solange man nicht dafür bezahlt wird. Er ist also gezwungen, die vollen Konsequenzen zu tragen und erleidet diesen sozialen Abstieg und finanziellen Verlust. Das führt dazu, dass er sich von seiner Frau trennt, weil er nicht mit ihr nach Montreal zurückkehren will. Tatsächlich stellt er sein Leben und den Sinn seines Lebens infrage, und begibt sich auf eine Suche nach seiner eigenen Wahrheit und seiner Berufung.
LB: Wenn jemand über die Privilegien verfügt, gutes Geld zu verdienen, wie der Protagonist mit seiner Fotografie, aber bewusst beschließt, dies aufzugeben, um etwas anderes auszuprobieren, stellt das nicht reale Armut als Zerstreuung der Mittelschicht dar?
VD: Ich adaptiere ja ein Buch, nämlich Franck Courtes gleichnamigen Roman. Franck erzählt darin seine eigene Geschichte. Mich beeindruckte daran, dass er überhaupt nicht selbstmitleidig ist. Er macht diese Lage durch, aber er sucht sich das nicht absichtlich aus. Ein Aspekt, der mir wichtig war, ist, dass das kreative Schaffen für Künstler nicht einfach Entspannung ist. Es ist ein Zustand, der über das normale Fassungsvermögen hinausgeht. Franck weiß, dass er schreiben muss. Er versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben, und spielt nicht bloß den Armen. Er beklagt sich über nichts. Er rennt nicht herum und sagt, „Oh, mir geht es so schlecht“ usw. Zu dem Zeitpunkt, als er seine Gig-Jobs macht, weiß er noch nicht, dass er darüber ein Buch schreiben wird.
Es liegt in der Natur des Künstlers, über den eigenen Erfahrungshorizont hinauszublicken und sich selbst zu hinterfragen. Er tut das nicht, um die Erfahrung von Elend zu machen. Im Gegenteil leidet er am Anfang unter dieser Situation. Er tut sich schwer, das anzunehmen. Aber ich wollte zeigen, dass Kreativität größer ist als wir selbst. Und Franck weiß das nur zu gut. Es ist seine künstlerische Bestimmung.
LB: Ein sehr interessanter Punkt: Du sagst, es sei seine Bestimmung zu schreiben. Viele Menschen aus der Unterschicht sind dazu bestimmt zu schreiben, zu komponieren, zu malen… Aber wir haben nicht die Möglichkeiten dazu. Das einzige, was aus Sicht der Gesellschaft unsere Bestimmung ist, ist uns Tod zu arbeiten. Warum also wird dieses Streben bei einer Person aus der Mittelschicht, die obendrein den bereits überlasteten Arbeitsmarkt weiter ausdünnt, und dadurch der Unterschicht überlebenswichtige Ressourcen wegnimmt, verklärt?
VD: Es stimmt, dass es viele arme Menschen gibt, die gerne Künstler wären, und ihre Träume nicht verwirklichen können. Franck spricht dies am Ende seines Buches sogar an. Er sagt: Vielleicht habe ich einem anderen Arbeitssuchenden den Arbeitsplatz weggenommen, jemandem, der Probleme hat, die ich noch nicht habe, weil ich noch nicht so lange in dieser Situation bin. Es ist nicht so, als ob er Geld hätte, als er sich auf die Suche nach Arbeit macht. Tatsächlich hat er nichts mehr übrig. In seinem vorherigen Buch „La Dernière Photo“ [„The Last Shot“], erklärt er ausführlich, warum er mit dem Fotografiere aufgehört hat. Tatsächlich litt er sogar unter Depressionen, weil das Fotografieren ihn nicht mehr erfüllte.
Ich kenne viele, viele Künstler, die in Frankreich von Sozialhilfe leben und in einer wirtschaftlich sehr prekären Lage sind. Es stimmt, dass es selten der Fall ist, als Kunstschaffender genug zu verdienen, um ein Auskommen zu haben. Es ist ein sehr schwieriger Weg, der Opfer erfordert. Aber es ist der Preis, den er zahlt, um die Wahrheit des Lebens zu entdecken. Er entdeckt diese Arbeitswelt und er gibt nicht vor, wie die anderen Arbeitenden zu sein. Indem er sich auch um die gleichen Arbeitsstellen bemüht, hindert er seine Mitbewerber ja nicht an der Arbeit. Er hat nicht mehr Mittel zur Verfügung als sie.
LB: Hast du dich allein auf die literarische Quelle verlassen, um die Gig Economy sowie das Leben der unteren Arbeiterklasse und Unterschicht realistisch darzustellen, oder unabhängig recherchiert?
VD: Franck Courtes beschrieb dieses Job-Forum in seinem Buch. Dann recherchierten wir und schauten uns das Ganze in der Realität an. So erstellten wir eine fiktive Version davon, die nach dem gleichen Prinzip funktioniert.
LB: Wo siehst du die Zielgruppe des Films? Ein überwiegend bürgerliches Publikum oder alle gesellschaftlichen Schichten?
VD: Ich glaube nicht, dassich Filme für Menschen aus der Mittelschicht mache. Die Leute, die heutzutage noch ins Kino gehen, sind eher mittleren Alters als junge Leute. Außerdem ist es ein Autorenfilm. Ich mache Filme für alle Leute und hoffe, dass jeder sie sehen möchte. Ich habe kein bestimmtes Publikum im Sinn, wenn ich einen Film mache.
LB: Glaubst du, dass ein mittelständisches Publikum einen Protagonisten mit dem gleichen sozialen Hintergrund als Identifikationsfigur benötigt?
VD: Worum es mir ging, war jemanden zu zeigen, der nach dem Sinn seines Lebens sucht. Ich denke, jeder sucht danach, wenn er die Möglichkeit dazu hat. Ich verstehe, dass es ein eher ungewöhnlicher Weg ist. Es ist eine Art Klassenwechsel in die entgegengesetzten Richtung.
LB: Hast du dich während des Drehprozesses mit dem Autor der Buchvorlage ausgetauscht? Oder hast du ihm erst den abgeschlossenen Film gezeigt?
VD: Ich habe ihm den Film erst gezeigt, als er fertig war.
LB: Wie hat er reagiert? Und hast du entscheidende Änderungen gegenüber der Buchvorlage vorgenommen?
VD: Zunächst einmal habe ich mich bei der Adaption des Buches viel mit ihm ausgetauscht. Ich erzählte ihm genau, was für eine Art Film ich mir vorgestellt hatte. Er las alle Fassungen des Drehbuchs und vertraute auf meine Entscheidungen. Es ist mein achter Film, also konnte er sich einen Eindruck machen, in welche Richtung es gehen würde. Es lief alles wunderbar. Erst hatte ich Sorge, der Vorlage gegenüber allzu respektvoll zu sein.
LB: Du selbst spielst eine Schlüsselrolle in diesem Film. Stand für dich von Anfang an fest, dass du diesen Part übernehmen würdest?
VD: Nein, diese Rolle zu übernehmen, war vor allem eine praktische Entscheidung. Es ist eine sehr kleine Rolle und die unsympathischste im ganzen Film.
LB: Wie war der Casting-Prozess? Hattest du einen bestimmten Darsteller für die Hauptrolle im Sinn?
VD: Das Casting nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Ich wollte ausschließlich darstellende, mit denen ich bereits in der Vergangenheit gearbeitet hatte. Bastien kenne ich schon lange. Bisher hatte er eher kleinere Parts in meinen Filmen, aber ich wollte ihm schon lange eine Hauptrolle geben, in der zeigen kann, dass er einen Film trägt.
LB: Der Hauptcharakter wechselt von der Fotografie zum Schreiben. Man könnte argumentieren, dass Film sowohl das Schreiben als auch Bildsprache vereint. Wie siehst du das? Und was repräsentiert jede der beiden Kunstformen für dich persönlich?
VD: Ich fühle mich dem Kino näher. Es ist eine fotografische Schrift. Es stimmt, dass es beide Formen zusammenführt.
LB: Arbeitest du bereits an einem neuen Projekt?
VD: Momentan noch nicht, nein.
LB: Vielen Dank für das Interview!